Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
gehindert, immer kürzer waren die Reisen geworden, die Kafka sich {541} noch zumuten konnte. Und dennoch wurde es jetzt wahr. Seinen 40. Geburtstag feierte er noch in Prag. Dann endlich die Fahrt nach Deutschland. Es war ein Geschenk, wie er es kaum mehr erhofft hatte.
Am Nachmittag des 5.Juli verabschiedete sich Kafka im Berliner Anhalter Bahnhof von seiner Schwester: Während Elli mit den Kindern weiter in Richtung Rostock reiste, um noch am selben Abend das Ostseebad Müritz zu erreichen, nahm Kafka ein Hotelzimmer. Er hatte einen Plan ausgeheckt, der ihm das größte Vergnügen seit langem bereitete. Natürlich wollte er endlich Brods Freundin Emmy Salveter sehen, mit der er schon gelegentliche Postkarten ausgetauscht hatte und die schon manches über ihn wusste. Doch auch Puah Ben-Tovim war in Berlin. Sie hatte soeben ein sozialpädagogisches Praktikum begonnen, einen Landaufenthalt mit jüdischen Flüchtlingskindern aus Polen und der Ukraine, die in einem Heim untergebracht waren. Die jüdische Gemeinde von Eberswalde, etwa eine Bahnstunde nordöstlich von Berlin, hatte sich bereit erklärt, diese Kinder für einen Monat aufzunehmen, und Puah, die nie zuvor mit Kindern gearbeitet hatte, war ihre Betreuerin. [643]
Das wollte nun Kafka mit eigenen Augen sehen, und tatsächlich hatte sich Emmy dazu bereit erklärt, mit ihm gemeinsam nach Eberswalde hinauszufahren – eine wirklich delikate Aktion, wie er sehr genau wusste, denn Emmy hatte sich nicht nur von einem jungen Hitler-Anhänger monatelang umwerben lassen, sie war auch selbst von antisemitischen, vor allem gegen die Ostjuden gerichteten Affekten geprägt, die erst Brod nach und nach hatte mildern können. Doch leider gelang nur der erste Teil des Plans. Denn als Kafka und Emmy Salveter knapp die Hälfte der Strecke bewältigt hatten, wurde ihnen klar, dass die Zeit für den Ausflug viel zu knapp bemessen war und dass sie erst in der Nacht zurückkehren würden – für Kafka, der seit dem frühen Morgen unterwegs war, eine Strapaze. So stiegen sie bereits in Bernau aus dem Zug, machten einen Spaziergang und fuhren zurück.
Dennoch war Kafka bester Laune und von der neuen Bekanntschaft begeistert. »Sie ist reizend«, schrieb er an Brod. »Und so ganz und gar auf Dich koncentriert. Es gab keinen Anlass, aus dem nicht auf Dich Bezug genommen wurde … Eine wirklich starke Ursprünglichkeit, {542} Geradheit, Ernsthaftigkeit, kindlich liebe Ernsthaftigkeit.« Offenbar wuchs das gegenseitige Vertrauen so rasch, dass man auch heikle Themen ansprechen konnte. Merkwürdig sei es, bemerkte sie einige Male, »wie man die Ansichten eines geliebten Menschen übernimmt, auch wenn sie den bisherigen eigenen entgegengesetzt waren«. Emmy Salveter hatte dazugelernt, es war deutlich genug. »Sie war sehr gut zu mir«, resümierte Kafka. [644]
Ein wenig klang das so (und sollte es wohl auch), als sei er nicht mit einer schönen jungen Frau, sondern mit einer Pflegerin unterwegs gewesen. Doch Brod erhielt natürlich auch von Emmy einen Bericht, einen ausführlicheren zweifellos, und hier erschienen das Treffen und die kleine gemeinsame Fahrt in einem etwas anderen Licht. »Ich hätte ihn beinahe geküßt«, schrieb Emmy kindlich ernsthaft nach Prag. Hätte sie es getan, so hätte sie eine heiße Wange gefühlt. Denn Kafka hatte ein wenig Fieber, auch am jenem 5.Juli 1923.
»Haus ›Glückauf‹, Pension, Telefon 29. Erbaut 1909. In ruhigster Gegend, am trockenen Hochwald, 8 Minuten vom schönen Ostseestrand, der Landungsbrücke, den Badeanstalten sowie dem ausgedehnten Freibadestrand gelegen, gegen Ost- und Nordwind geschützt. Helle, gut eingerichtete, luftige Zimmer, fast alle mit Veranda oder überdachtem Balkon. Freier Blick auf das Meer. Anerkannt gute Verpflegung. Solide Preise. Die Mahlzeiten werden im freundlichen, geräumigen Speisesaal an kleinen Tischen eingenommen. Elektrisches Licht. Wasserleitung. Wasserspülung. Jede weitere Auskunft wird gerne erteilt. Prospekt kostenfrei. Tel.-Adr.: Glückauf. Ostseebad Müritz. Karl Schütt jun.«
Das Meer hatte Kafka seit zehn Jahren nicht erlebt, und es kam ihm vor, als sei es in dieser langen Zeit schöner geworden. Er war glücklich, es zu sehen, wenngleich er jetzt nicht mehr so unbefangen darin eintauchen konnte wie früher. Das hing von der Temperatur ab – von seiner eigenen nämlich, die er täglich und gewohnheitsmäßig kontrollierte.
Wie die Kafkas auf das Ostseebad Müritz verfallen waren, ist
Weitere Kostenlose Bücher