Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)
Wohltat aus dem Kastengeist der k. u. k. Monarchie.
Wie Kafka empfangen wurde, wissen wir nicht. Er sah gut aus, gebräunt und wohlgenährt, im Schwimmbad an der Moldau hätte er sich sehen lassen können. Unauffällig horchte man auf seinen Husten; an jener »annähernden Gesundung«, die Dr.Strelinger immer wieder versprochen hatte, wenn Kafka nur lange genug in den Bergen bliebe, musste man zweifeln, und vielleicht war es wirklich besser, dass er seine fünf Monate alte Nichte Věra, die er bald darauf zum ersten Mal sah, nicht auf den Arm nahm. Doch wenn er davon erzählte, wie alle ihn umsorgt hatten in Matliary, dann war man bereit zu glauben, dass es vielleicht doch der rechte Ort gewesen war und dass er eigentlich nur aus langen, sehr langen Ferien zurückkehrte.
Er wusste es besser, von jeher schon, und mit der Rückkehr in die vertraute Welt, mit der Anforderung des Erinnerns und Erzählens meldete sich nun auch das Verdrängte zurück. »Es war ein Fehler«, hatte er Brod schon im Winter gestanden, »dass ich bisher nicht unter Lungenkranken gelebt und der Krankheit eigentlich nicht in ihre Augen geschaut habe, erst hier habe ich das getan.« [510] Diese Erfahrung war furchtbar gewesen, gegenüber den Eltern musste er davon schweigen, doch vergessen konnte er es nicht mehr. Und irgendwann in den folgenden Wochen und Monaten wurde der Gedanke unabweisbar, dass dieses Furchtbare ihn nahe anging, dass es eine Lektion war, die er jetzt endlich lernen musste. So nahm er ein Blatt Papier zur Hand und notierte die folgenden Zeilen:
»Liebster Max, meine letzte Bitte: alles was sich in meinem Nachlass (also im Bücherkasten, Wäscheschrank, Schreibtisch zuhause und im Bureau, oder wohin sonst irgendetwas vertragen worden sein sollte und Dir auffällt) an Tagebüchern, Manuscripten, Briefen, fremden und eigenen, Gezeichnetem u.s.w. findet restlos und ungelesen zu verbrennen, ebenso alles Geschriebene oder Gezeichnete, das Du oder andere, die Du in meinem Namen darum bitten sollst, haben. Briefe, die man Dir nicht übergeben will, soll man wenigstens selbst zu verbrennen sich verpflichten.
Dein
Franz Kafka« [511]
{538} Dora
Niemand hört es ungern,
wenn man ihn drängt, weiterzuleben.
Petronius, SATYRIKON
Eine Wärmflasche, zwei Decken, ein Federbett. Daneben der vom Dienstmädchen in Gang gehaltene Ofen. Zehn Jahre zuvor, als Kafka selbst im Winter bei offenem Fenster schlief, wäre ihm ein solches Ambiente als höllische Zumutung erschienen, und überheizte Räume waren in seinen Werken stets Metaphern der Unfreiheit und der Abkehr vom Leben. Jetzt lag er eingehüllt, fröstelte und fürchtete sich vor der Lungenentzündung.
Solche Tage gab es im Winter 1922/23 immer wieder, ja, bisweilen kam es noch schlimmer, und Kafka wurde stundenlang gepeinigt von Magen- und Darmkrämpfen. Hatte etwa auch das mit der Tuberkulose zu tun? Max Brod lief sogleich zum Hausarzt der Kafkas und ließ sich seinen Verdacht bestätigen: Ja, es sei durchaus möglich, sagte der nicht sonderlich diskrete Dr.Hermann, dass die Infektion bereits auf den Darm übergegriffen habe. Zum ersten Mal also räumte ein Mediziner ein, dass die Grenzen der therapeutischen Möglichkeiten vielleicht schon hoffnungslos überschritten waren. Das sollte sich zwar noch nicht bewahrheiten, doch solche zusätzlichen Komplikationen verschlechterten natürlich Kafkas Chancen auf Heilung. Und sie ließen ihm auch nicht mehr die Kraft, sich auf seine beiden wichtigsten Aufgaben, die Literatur und das Hebräische, gleichzeitig zu konzentrieren. Er entschied sich für das Letztere, und die FORSCHUNGEN EINES HUNDES blieben liegen, für immer.
Nicht nur in seinem Zimmer, in der gesamten Wohnung herrschte jetzt zeitweilig die Atmosphäre einer Krankenstation. Denn Kafkas Mutter brauchte lange, um sich von einer, wie er schrieb, »aussergewöhnlich schlimmen« und mit »schmerzhaftesten Prozeduren« {539} verbundenen Operation zu erholen. [639] Erst im Frühjahr besserte sich die Situation, Kafkas Fieber verschwand für einige Monate völlig, und trotz neuerlich quälender Schlaflosigkeit, gegen die er zeitweilig sogar mit Medikamenten vorgehen musste, war er im April wieder kräftig genug, um auszugehen. Anfang Mai entschloss er sich, für ein paar Tage allein in eine Prager Sommerfrische zu fahren: nach Dobrichowitz, das man in einer halben Stunde mit der Bahn erreichte und wo es ihm ebenso gut gefiel wie in Planá. Durchgreifende Erholung
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