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Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Erkenntnis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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konnte er in so kurzer Frist natürlich nicht erwarten; immerhin war es ein Test, mit dem er sich selbst bestätigte, dass er noch reisefähig und keineswegs ein Pflegefall war. Auch spielte wohl der Hintergedanke mit, dass es besser sei, bei Ottlas kurz bevorstehender zweiter Entbindung nicht im Weg zu sein. Doch länger auf dem Land zu bleiben erwies sich als unmöglich, denn Dobrichowitz sei so teuer, schrieb er an Milena, »dass man nur die letzten Tage vor dem Tod hier verbringen dürfte, es bleibt dann nichts übrig«. [640]   Und so war er bereits ein, zwei Tage nach der glücklichen Geburt seiner Nichte Helene wieder in Prag.
    Nun musste sich auch Ottla für einige Zeit erholen, aber das war natürlich nur zu Hause möglich, an gemeinsame Sommerferien mit ihr und dem Säugling war vor August nicht zu denken. Bis dahin noch einmal allein zu verreisen lockte Kafka wenig, schon wegen des Risikos, in irgendeinem Hotel bettlägerig zu werden und dann unter großem Aufwand wieder abgeholt werden zu müssen. Mit Klopstock in die Hohe Tatra zu fahren, um dort unter Scharen von Kranken zu leben, verspürte er noch weniger Lust. Wohin also? Auch Kafkas Schwester Elli reiste mit ihren drei Kindern – darunter die erst dreijährige Hanna – in die Ferien, allerdings an die Ostsee, und vom nördlichen Reizklima hatte der Arzt doch eigentlich abgeraten. Dennoch beschloss der Familienrat, dass diese Lösung wohl die beste sei und dass Franz mitfahren solle. Er brauchte einen vertrauten Menschen, der im Ernstfall eingreifen konnte, und – für die Eltern ebenso wichtig – er brauchte ein wenig Ablenkung von seinen Palästinaplänen, die unter dem Zureden der Prager Freunde allmählich bedrohliche Formen angenommen hatten. Dieses Kalkül allerdings schlug fehl, auf geradezu komische Weise. Denn auch an gewissen Ostseestränden traf man, wie sich noch zeigen sollte, genügend Menschen, deren Traum Palästina hieß, und einen von diesen Orten hatte die Familie ahnungslos ausgewählt.
    Kafka stimmte der Expedition wohl nicht zuletzt deshalb zu, weil die Fahrt über Berlin führte. Er hatte die Stadt seit jenen unglückseligen Tagen im Hotel ›Askanischer Hof‹ nicht mehr gesehen, neun Jahre lag das nun schon zurück, doch das unbeschreibliche Elend, die ungeheuren Erschütterungen, die Berlin seither erlitten hatte, waren Kafka durchaus gegenwärtig. Denn ganz anders als Wien, das einstige Machtzentrum seiner Lebenswelt, das sich für Kafka nur zeitweilig und nur als Umgebung Milenas ein wenig aufhellte, war Berlin ein geistiger Flucht- und Orientierungspunkt geblieben, kein bloß vergrößertes oder beschleunigtes Prag, sondern etwas völlig anderes . Sicherlich hatte Kafkas Enthusiasmus etwas Naives und, aus Sicht seiner Freunde, die Berlin aus eigenem Erleben viel besser kannten, auch Rührendes. Wie der Himmel über der Erde, hatte er einmal an Felice geschrieben, so hänge für ihn Berlin über Prag. [641]   Dabei war er geblieben, das Bild meinte gar nicht die Geliebte, sondern stammte aus einem wiederkehrenden Traum, wie ihn Gefangene träumen, einer Phantasie der Befreiung. Nun, was den Kindern die weite Welt, war Kafka eben Berlin. Und doch folgte er damit dem durchaus begründeten Gefühl, dass Berlin die ›Welt‹ – die künftige nämlich, hereinbrechende Moderne – in ganz anderer Weise repräsentierte als das notdürftig demokratisierte Wien, ja selbst als das tschechische Prag: Alle Konflikte – soziale, ethnische, kulturelle, intellektuelle – wurden in Berlin offener, artikulierter, gleichsam auf höherem energetischen Niveau ausgetragen. Der Puls ging hier nicht nur schneller, er war auch kräftiger: »Es wird jeschafft«, meldete einmal Brod, nach wenigen Tagen Berlin schon völlig erschöpft. Wenn er so etwas höre, antwortete Kafka, dann werde ihm heiß. Und er gestand, dass er einem ernsthaften »Angebot« aus Berlin wohl niemals hätte widerstehen können. [642]  
    Es war dann aber Max Brod gewesen, der einen solchen Ruf nicht nur empfangen, sondern auch angenommen hatte, mit aller Konsequenz. Er fuhr nach Berlin, so häufig es nur anging, erwartet von einer Geliebten, die ihn bedrängte, noch öfter zu kommen. Dieses Mädchen müsse Kafka kennenlernen, wiederholte er seit nunmehr zweieinhalb Jahren, auch Emmy sei sehr neugierig, und da er sie nach Prag nicht einladen könne, müsse Kafka eben nach Berlin reisen. Nichts lieber als das. Nur Krankheit und Schwäche hatten ihn daran

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