Kahlschlag (German Edition)
es im ersten Anlauf aufzuspringen, zwängte sich zwischen zwei Waggons und balancierte auf dem Verbindungsstück. Er dachte sich, dass er bei dem Wassertank kurz abspringen und vielleicht einen offenen Waggon finden oder einen aufbrechen könnte. Dann könnte er drinnen mitfahren, sich zurücklehnen und einfach aus diesem Leben fortreisen. So lange, bis ihm nach Aussteigen war. Ohne festes Ziel. Einfach weiterfahren, bis er es nicht mehr aushielt.
Dann dachte er an Sunset, die nicht Bescheid wusste und nicht ahnte, was auf sie zukam. Er stellte sich vor, dass Plug und Tootie alles widerstandslos mitmachen würden, was McBride verlangte, genau wie er selbst. Kurz überlegte er, ob er umkehren und sie warnen sollte. Aber nein. Nicht einmal dazu reichte sein Mut. Er hatte das Gefühl, McBride würde wissen, dass er abhaute, irgendwie würde er das spüren, würde ihn suchen oder – wahrscheinlicher noch – Two losschicken. Wenn McBride feststellte, dass er sich davongeschlichen hatte, wollte er nicht in der Nähe von Camp Rapture oder Holiday sein. Eigentlich wollte er dann nicht mal mehr in Osttexas sein. Verdammt, sogar Louisiana war vielleicht noch zu nah. Ein Mann wie McBride konnte einem so ziemlich alles übel nehmen.
Rooster sah die Bäume vorbeigleiten, sah Böschungen zu beiden Seiten des Zugs aufragen, die ihm vorübergehend ein bisschen Schatten spendeten, dann waren sie verschwunden, und sie kamen an ein paar Pinien und einigen verstreut liegenden Häusern vorbei. Er holte tief Luft, und als er ausatmete, sagte er: »Viel Glück, Rotschopf.«
Die Lokomotive pfiff, dann rumpelte der Zug quietschend um die Kurve und verschwand. Und mit ihm Rooster.
Nachdem Clyde auf Sunsets Grundstück gefahren war, blieb er hinter dem Steuer sitzen. Er wollte nicht aussteigen. Sunsets Auto war fort, und darüber war er froh.
Marilyn und ein stämmiger Mann saßen vor dem Zelt auf Stühlen und enthülsten über einer Papiertüte Erbsen, die Marilyn mitgebracht hatte. Auf der Motorhaube ihres Pick-up hockte ein Junge und beäugte Karen, die unter der Eiche Erbsen in eine flache Schüssel enthülste. Clyde zerbrach sich den Kopf, wer der Mann und der Junge wohl waren, aber irgendwie schienen sie dazuzugehören, also stieg er nicht aus, um zu fragen. Er wollte nie mehr aussteigen.
Der stämmige Mann sah ihn, stand auf, kam zu Wagen und streckte die Hand durchs Fenster. »Lee Beck. Marilyn sagt, Sie sind Clyde.«
Clyde schüttelte ihm kurz die Hand und erwiderte: »Was von ihm noch übrig ist.«
»Was ist passiert?«
»Ich hab ne Tracht Prügel gekriegt.«
»Das sehe ich.«
Jetzt kamen auch Marilyn, Karen und der Junge zum Wagen.
»Clyde, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Karen.
»Am meisten ist mein Stolz verletzt«, entgegnete Clyde. »Na ja, eigentlich glaube ich, sind mein Stolz und mein Körper gleich verletzt. Außerdem ist mir ein Zahn abgebrochen.«
»Wer war das?«, fragte Karen.
»Das ist das Schlimmste an der Sache.« Clyde öffnete die Wagentür und stieg aus. Ihm war ein wenig schwindelig. »Dieser gottverdammte Schönling. Hillbilly.«
Karen brach in Tränen aus und rannte ins Zelt.
»Ich wusste gar nicht, dass sie so mitfühlend ist.«
»Ich glaube, ihre Gefühle gelten Hillbilly«, sagte Marilyn.
»Na, um den braucht sie sich keine Sorgen zu machen. Der ist so munter wie ein Scheißperlhuhn. Allerdings tun ihm vielleicht ein oder zwei Fingerknöchel weh. Verdammt. Ich hab gedacht, ich wär ein ganzer Kerl, aber der hatte es wirklich drauf. Hoffentlich glaubt sie nicht, ich hätte ihm wehgetan.«
»Karen hat gerade erst herausgefunden, dass Hillbilly ein Dreckskerl ist«, entgegnete Marilyn. »Sie ist schwanger von ihm.«
»Verdammt«, sagte Clyde.
»Danke, Großmama«, ließ sich Karen aus dem Schutz des Zelts vernehmen. »Besten Dank auch.«
»Die Leute erfahren es sowieso bald, meine Liebe. Und hier sind jetzt nur Familienmitglieder und Freunde.«
»So was hatte ich schon befürchtet«, sagte Clyde. »Ich hab’s mir fast gedacht, aber ich hab nichts gesagt, weil ich’s nicht sicher wusste. Hätte ich aber doch machen sollen.«
»Du redest über mich«, rief Karen. »Ich bin hier, weißt du.«
»Wenn du mitreden willst«, erwiderte Marilyn, »dann komm aus dem Zelt raus.«
»Mach dir mal keine Sorgen, Kleines«, mischte sich Goose ein. »Ich sorg schon für dich.«
»Du kennst mich ja nicht mal.« Karen streckte den Kopf aus dem Zelt »Und ich weiß nicht mal, wie du
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