Kahlschlag (German Edition)
ja nicht so, als würden sie uns in Camp Rapture mit offenen Armen und einer warmen Mahlzeit empfangen«, sagte Goose. »Der Boden ist hier auch nicht schlechter als dort. Ist nicht das erste Mal, dass ich auf dem Boden schlaf.«
»Da hast du recht«, entgegnete Lee. »Lassen wir’s für heute gut sein.«
Sie gingen in den Wald und suchten nach einem Platz, wo sie sich hinlegen konnten. Nicht weit von der Straße entfernt hatte sich unter einem Baum Laub angesammelt, und dieser Blätterhaufen kam ihnen in dem Moment wie ein Federbett vor. Dann sah Lee, dass der Baum, eine massive Eiche, einen großen, tiefhängenden Ast hatte, der gesplittert war, vermutlich durch einen Blitzschlag. Der Ast war breit genug, dass ein Mensch darauf liegen konnte, und so tief gespalten, dass er so war wie eine natürliche Hängematte. Lee füllte den Spalt mit Laub und sagte: »So, jetzt hast du ein Bett, Goose.«
»Das ist nichts für mich. Ich kann selbst für mich sorgen. Ich brauch keine Hilfe, um mich irgendwo hinzulegen. Außerdem kletter ich nicht auf Bäume, wenn’s nicht sein muss. Ich kletter auf gar nichts, wenn’s nicht unbedingt sein muss.«
»Der ist doch höchstens einen Meter fünfzig über dem Boden.«
»Trotzdem, für mich ist das nichts.«
»Was bist du denn für ein Junge? Magst du nicht auf Bäume klettern?«
»Das Raufklettern macht mir nichts. Aber das Runterfallen.«
Lee legte sich auf den Ast, und Goose legte sich unten auf das Laub. »So aufgeschichtete Blätter, da hat mein Daddy immer gesagt, das machen nachts die Affenmenschen. Also die Blätter zu nem Stapel aufschichten.«
»Glaubst du das?«
»Ich weiß nicht. Eher nicht. Ist aber ne nette Geschichte.«
»Wie waren deine Leute so, Goose?«
»Wie andere auch, nehm ich an. Arm. Aber sie waren schon vor der Wirtschaftskrise arm. Meine Mama hatte Cherokee-Vorfahren, und mein Papa war Halb-Choctaw. Als es dann richtig eng wurde, hab ich mich verdrückt, damit sie nicht so viel am Hals hatten mit den ganzen Kindern. Ich bin hier nach Osttexas gekommen, und sie sind weiter nach Kalifornien.«
»Warum bist du nicht mit ihnen mitgegangen?«
»Ich wollte nicht wo leben, wo sich das Wetter nie ändert. Ich kann’s nicht ab, wenn der Sommer nicht mehr aufhört. Ich mag’s, wenn ich nicht weiß, ob’s regnet oder stürmt, ob’s wolkenlos ist oder heiß. Allerdings hat mir das besser gefallen, solange ich noch ein Dach über dem Kopf und halbwegs regelmäßig was zu essen hatte. Wenn ich’s mir so überleg, wäre ich vielleicht doch besser mit nach Kalifornien gegangen.«
»Ich war schon dort. Da ist nichts Besonderes. Dasselbe wie hier, nur mit ausgeglichenerem Klima und Orangen. Mir geht es wie dir, Goose, ich mag es auch nicht, wenn das Wetter immer gleich ist. Wechselhaftes Wetter lehrt einen, flexibel zu bleiben. Man kann sich den Ereignissen anpassen. Wenn alles immer einfach ist, kann man den Charakter nicht entwickeln.«
»Vielleicht ist Charakter nicht das, was ich brauch. Vielleicht brauch ich eher drei Mahlzeiten am Tag und ein Bett und irgendwas über dem Kopf, damit ich nicht nass werde.«
»Vielleicht, Goose.«
Bald schon hörte Lee, wie Goose schnarchte, und stellte überrascht fest, dass er nicht einschlafen konnte. Seine Gedanken rasten, und Gooses Schnarchen machte die Sache nicht besser. Er lag da und starrte in die Zweige des Baums hinauf. Zuerst war alles nur schwarz, aber als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er einzelne Äste ausmachen und schließlich durch einzelne Lücken auch ein paar Sterne.
Ein altes Bedürfnis überfiel ihn, so wie damals, als er noch gepredigt hatte. Es war das Bedürfnis, seine Gedanken zu Gott schweifen zu lassen, der sich bestimmt hinter dem Schleier aus Nachthimmel und Sternen befand und vielleicht doch nicht so gemein war, wie man es nach seinen Taten glauben musste. Manchmal dachte er, Gott wäre nur zu ihm gemein. Vielleicht hatte er es verdient.
Er wusste nicht mehr, was er verdient hatte, und konnte sich auch nicht vorstellen, dass es irgendeine Rolle spielte. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er sich Gott nahe gefühlt, hatte sich als Gottes Diener betrachtet. Aber das war viele Sünden her.
Er lag da und starrte und dachte nach, bis der Himmel schließlich heller wurde und er endlich die Augen schloss.
KAPITEL 16
Am nächsten Morgen fuhr Marilyn raus zu Sunsets Zelt. Clyde saß im Freien auf einem hölzernen Klappstuhl und trank Kaffee. Sunset
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