Kahlschlag (German Edition)
lästig.«
»Ich hab nur die Sachen, die ich auf dem Leib trag, und diese Kappe. Meine Schuhe haben Löcher in den Sohlen. Ich hab sie mit Pappe ausstopfen müssen.«
»Das habe ich mit meinen auch gemacht, mein Sohn.«
»Ich hab ne Pfefferminzstange, die ich aus nem Laden geklaut hab. Sie ist ein bisschen zerbröselt, weil ich sie in der Hosentasche hab, aber wenn du magst, können wir sie uns teilen.«
»Gern.«
Der Junge zog die Pfefferminzstange heraus. Sie bestand nur noch aus kleinen Bröckchen, aber er teilte die Bröckchen sorgfältig auf und kippte dem Mann die eine Hälfte in die Hand. Der Mann warf sich alles auf einmal in den Mund. An den Bröckchen klebten Fussel und Erde, aber er war so hungrig, dass Fussel und Erde für ihn wie Gewürze waren. Zuletzt hatte er vor zwei Tagen etwas gegessen, und das war ein gekochter Schuh gewesen, den er und ein paar Wanderarbeiter neben den Schienen zubereitet hatten. Sie hatten auch eine Süßkartoffel kleingeschnitten und dazugegeben, aber davon hatte er nichts abbekommen, und der Schuh – obwohl in kleine Stücke gehackt und so lange gekocht, bis er weich genug war, um essbar zu sein – hatte immer noch nach Schuhcreme geschmeckt, und später hatte er sich übergeben müssen. Im Moment war er so hungrig, dass sich sein Magen anfühlte, als hätte man ihm die Kehle aufgeschlitzt.
»Was willst du in Camp Rapture machen?«, fragte der Mann.
»Versuchen, Arbeit zu kriegen, genau wie du.«
»In deinem Alter sollte ein Junge noch nicht arbeiten müssen. Im Haushalt mithelfen und so, das schon, aber keine Männerarbeit verrichten.«
»Das sag ich auch immer, aber das scheint nichts zu nützen. Ich hab jede Arbeit angenommen, die ich finden konnte. War nur keine dabei, bei der man das große Geld macht. Ich kann pflügen, ich kann Sachen schleppen, ich kann anstreichen und ich kann pflücken. Ne Zeit lang hab ich bei nem Jahrmarkt mitgearbeitet, bis mich der Boss übers Steuer eines der Wagen geschmissen und mir sein Ding in den Hintern reingeschoben hat.«
»Das tut mir leid.«
»Hat wehgetan, aber wenigstens hatte er anschließend Scheiße auf seinem Schwanz. Später hab ich dann den kleinen Wagen in Brand gesteckt, in dem er gehaust hat. Der Mann hat auch gebrannt, aber die Schausteller haben die Flammen erstickt. Ich bin weggelaufen, bevor es ihm wieder besser ging und er spitzkriegte, dass ich das gewesen war. Da hat so ne Verrückte gearbeitet, die konnte richtig bösartig werden, wenn er das wollte. Die ist auf einen losgegangen und hat einen mit beiden Händen gehauen, so schnell sie konnte, und die konnte sehr schnell sein. Ich hab angenommen, er würd sie auch auf mich loshetzen. Bei anderen hatte er das schon getan.«
»Du hast schon ganz schön was mitgemacht.«
»Das kannst du laut sagen. Hauptsache, die Arbeit ist schwer und macht einem den Rücken kaputt.«
»Wart ab, bis du so alt bist wie ich.«
»Wie alt bist du?«
»Über fünfzig. Mehr brauchst du nicht zu wissen. Die Wolken verziehen sich, der Mond kommt wieder durch.«
Sie gingen eine Zeit lang vor sich hin, dann streckte Lee plötzlich die Hand aus und hielt den Jungen zurück. »Sieh mal da.« Eine große schwarze Schlange glitt mit peitschenden Bewegungen und hoch erhobenem Kopf über die Straße.
»Verdammt«, sagte der Junge. »Die ist länger als Satans Schwanz.«
»So solltest du wirklich nicht reden.«
»Ich find dich nett, aber du bist nicht mein Vater.«
»Da hast du recht.«
»War das ne Wassermokassinschlange?«
»Ich glaube, das war nur eine große alte Hühnerschlange. Die tun niemandem was, die fressen nur Hühner, Eier und Ratten. Die Ratten sind mir egal, aber man kann sich ganz schön über die Schlangen aufregen, wenn sie ins Hühnerhaus eindringen und man sich auf Eier zum Frühstück gefreut hatte.«
Sobald sie sicher sein konnten, dass die Schlange tief im Wald verschwunden war, gingen sie weiter.
»Sind Hühnerschlangen giftig?«, fragte Goose.
»Nein. Aber wenn ich eine sehe, kriege ich trotzdem eine Gänsehaut. Vermutlich sind sie Gottes Geschöpfe genau wie wir, aber wenn ich gerade eine Hacke zur Hand habe, schlage ich ihr den Kopf ab, egal, ob sie giftig ist oder nicht.«
»Dann hat die Schlange ja Glück gehabt, dass du heute keine Hacke dabeihast.«
»Wohl wahr. Als ich noch klein war, hat mich mal eine Peitschenschlange ums Haus herum gejagt, und als ich mich drinnen versteckt habe, hat sie sich aufgerichtet und zum Fenster
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