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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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eines Tages kam irgendwer auf die Idee, im Zimmer ein Lagerfeuer zu machen. Einer holte ein Küchenblech aus dem Herd, ein anderer brachte Papier und Holz, und dann machten sie auf dem Blech ein »Feuerchen«.
    Anna Leutze stürzte aus ihrem Arbeitsraum, schrie wie eine Besessene, nahm einen Handfeger und schlug auf die Burschen ein. Die rannten lachend davon und entwischten durchs Fenster. Nur einer, der nicht schnell genug war, bekam noch einige Schläge mit dem Handfeger auf den Rücken und verstauchte sich beim Hinunterspringen auf die Straße den Fuß. Im Davonhumpeln schrie er, daß es in der ganzen Nachbarschaft zu hören war: »Die Alte ist übergeschnappt! Die Alte ist übergeschnappt!«
    Die Hausbewohner, die keine Ahnung hatten, was in der Wohnung vorgefallen war, glaubten, Anna Leutze sei nun ganz verrückt geworden, und jemand verständigte die Polizei. Kurze Zeit später erschienen zwei Beamte vom nahen Revier. Anna Leutze hatte mittlerweile, in großer Erregung mit sich selbst redend und die Burschen verfluchend, das Feuer gelöscht. Sie holte eben vom Treppenflur einen Eimer Wasser, denn sie hatte in der Wohnung keinen eigenen Wasseranschluß. Die Polizisten klopften an ihre Tür und verlangten Einlaß. Sie schrie: »Niemand kommt mir rein! Niemand!« Doch die Polizisten drückten mit Gewalt die Tür auf. Anna Leutze schüttete ihnen den Eimer Wasser entgegen. Da verzichteten die beiden auf ein Protokoll und zogen sich zurück.
     
    Vor unserem Haus war es zu einem Menschenauflauf gekommen. Ich stand mitten in der Menge. Warum ich draußen und nicht bei der Clique im Zimmer war, daran erinnere ich mich nicht mehr, aber das tragische Geschehen selbst ist mir in vielen Einzelheiten vor Augen. Deutlich sehe ich Anna Leutze vor mir, wie sie noch einmal mit aufgelösten Haaren und einem vor Entsetzen geweiteten Blick ans Fenster trat, sich hinausbeugte, irgend etwas Unverständliches zu den Menschen auf der Straße sagte, dann das Fenster schloß und die Vorhänge zuzog.
    Keiner der Draußenstehenden, so schien es mir, wußte recht, was da eigentlich vorging. Die wildesten Gerüchte kamen auf. Es hieß, die verrückte Modistin habe zwei Kinder eingesperrt, in einem Holzverschlag, wie die Hexe bei Hansel und Gretel. Andere meinten, sie wolle sie möglicherweise umbringen. Schließlich hieß es, sie habe sie bestimmt schon umgebracht. Dazwischen hörte man Mütter ängstlich nach ihren Kindern rufen.
    »Man kann doch nicht zusehen, wie eine Verrückte Kinder umbringt«, sagte jemand, »man muß etwas tun.«
    »Man muß die Kinder retten!« rief eine Frau.
    Ein Mann fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Holt doch die Hexe aus ihrem Loch heraus!«
    Die Menge wurde unruhig und drängte in die Toreinfahrt. Ein Stein flog gegen das Fenster. Nur noch wenige Minuten, und die aufgebrachte Menge würde in Anna Leutzes Wohnung eindringen.
    Im letzten Augenblick kam mit lautem Hupen ein Krankenwagen angefahren und hielt vor unserem Haus. Er kam aus der Nervenklinik Niederrad, und zwei Wärter waren mitgekommen. Auch die beiden Polizisten tauchten wieder auf. Zu viert drangen sie in die Wohnung ein. Unter ihrem Bett, so sagten später Hausbewohner, hätte man Anna Leutze entdeckt. Die Wärter kamen heraus, holten eine Krankenbahre und verschwanden wieder im Haus. Nach dem schrillen Geschrei und dem Gepolter zu urteilen, muß sich Anna Leutze verzweifelt gewehrt haben. Als man sie eine Weile später, auf die Bahre geschnallt, durch die gaffende Menge trug, hatte man ihr einen Mantel über den Kopf gelegt.
    Anna Leutze kam nicht mehr zurück, und niemand im Haus hat je wieder von ihr gehört.
     
     

Aus der Clique ausgestoßen
    Als ich zehn Jahre alt war, hatte ich ein Erlebnis, das mir noch lange Zeit danach schlaflose Stunden bereitete. Erna, damals etwa zwölf, war als einziges Mädchen in die Clique aufgenommen worden, denn sie war flink und draufgängerisch und auch für Straßenkämpfe brauchbar. Sie rannte so schnell wie die Buben und konnte auch genauso gut über Mauern klettern. Sie war ein schmales, hochaufgeschossenes Mädchen mit Streichholzbeinen und einem farblosen Gesicht, blonden strähnigen Haaren, aber einem schon deutlich sichtbaren Busen, mit dem sie den Buben zu imponieren versuchte. Wie zwei Apfelsinenhälften steckten die kleinen Brüste unter ihrer weißen Bluse, die beim Laufen ganz eng wurde, weil Erna dann die Schultern stark nach hinten drückte. Jetzt kam es auch öfter mal vor,

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