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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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daß zwei oder drei von den Älteren allein mit ihr loszogen. Eines Abends, als es schon dunkel war, sah ich vom Fenster aus Erna mit einem Jungen in dem Toilettenverschlag im hinteren Teil des Hofs verschwinden und wurde sehr erregt bei der Vorstellung, was die beiden dort treiben könnten.
    Irgendwann einmal saßen wir in der Hecke hinter dem Opernhaus, wo wir uns nach der Vertreibung aus Anna Leutzes Wohnung immer trafen, als Erna plötzlich sagte: »De Vali is'n Judd!« Wo sie das her hatte, weiß ich nicht, jedoch befolgte ich Mamas strenge Anweisungen und bestritt es entschieden. Erna beharrte darauf und meinte, das lasse sich leicht feststellen, man brauche mir nur die Hose herunterzuziehen. Bevor ich mich noch wehren konnte, hatte mich einer der Älteren mit seinem Spezialgriff gefaßt, wobei er mir die Handgelenke schmerzhaft verbog, ein anderer riß mir die Hose auf und hob das Hemd hoch. Ich schämte mich zu Tode, weil Erna dabei war, und die anderen grölten: »De Vali is'n Judd! De Vali is'n Judd!«
    Es muß Schorschi gewesen sein, der meinte, Juden hätten nichts in der Clique zu suchen, und man beschloß, daß ich ab sofort nicht mehr dazugehöre. Sie schickten mich weg, keiner tat mir etwas, nicht einmal Holle stellte mir ein Bein, was er sonst mit Vorliebe machte.
    Dieses Verdikt war ein Bruch für immer, ich hatte nie mehr etwas mit der Clique zu tun. Die Trennung wurde mir dadurch leichter gemacht, daß ich kurz darauf in die Mittelschule kam. Das bedeutete eine gewisse gesellschaftliche Gleichstellung mit denen aus dem Vorderhaus und stärkte ein wenig mein kaum ausgeprägtes Selbstwertgefühl.
     
    Wenn es einem Hinterhofkind gelungen war, aus dem gesellschaftlichen Souterrain in die schon etwas erhabeneren Mittelschulräume aufzusteigen, dann sorgte ein standesbewußter Mittelschullehrer, der auch großen Wert auf die richtige Berufsbezeichnung legte, schon dafür, daß dieses Kind nie vergaß, wo es herkam. Ob nun der Mathematiklehrer Weyel nach einer verpatzten Klassenarbeit in väterlich-gütigem Ton zu mir sagte: »Nicht jeder muß die Mittlere Reife machen, man braucht auch Maurer und Metallarbeiter«, wobei er geschickt auf den Beruf meines Vaters anspielte; ob Rektor Beyer, bei dem wir »Geschichte« hatten, mich süffisant tadelte: »Gerade du hast es nötig, Senger - steh gefälligst auf, wenn ich mit dir spreche - gerade du hast es nötig, mit deinem Geschwätz den Unterricht zu stören«; oder ob der Klassenlehrer Arz sich vor uns aufstellte und erläuterte: »Senger und Peters« - das war der andere »Arme« in der Klasse - »haben von zu Hause schriftliche Erklärungen mitgebracht, daß sie die zwei Mark für den Klassenausflug an den Rhein nicht aufbringen können. Ich denke, wenn jeder von euch einen Groschen mehr mitbringt, brauchen wir nicht beim Schulamt betteln zu gehen, kriegen das Geld auch so zusammen und die beiden können mitkommen. Senger und Peters werden es euch bestimmt danken.«
    Er zog die Geldbörse aus der Gesäßtasche seiner Hose, schubste mit Daumen und Zeigefinger das Münzgeld durcheinander, hielt drei Groschen in die Höhe, sagte generös: »Ich mache den Anfang«, und legte die Geldstücke in eine leere Kreideschachtel. Ich weiß nicht mehr, ob er noch hinzufügte: »Armut ist keine Schande«, aber diese Bemerkung würde fehlen, hätte er sie nicht getan. So schaffte er es, daß nicht nur die Armut der beiden »Minderbemittelten« für jedermann sichtbar wurde, wie mit dicker Kreide an die Wandtafel gemalt, sondern daß wir auch noch mit der zur karitativen Sammelbüchse erklärten Kreideschachtel als Almosenempfänger der Klassenkameraden abgestempelt waren. Das war für mich schlimmer als eine Tracht Prügel.
     
    Die Kaiserhofclique löste sich in den folgenden Jahren von selbst auf. Doch wir sahen uns fast täglich im Vorübergehen auf der Straße. Eine ganze Reihe ehemaliger Cliquenmitglieder waren, wie ihre Eltern, Hitleranhänger oder wurden es später. Schon vor 1933 traten Hans und Holle in die Hitler-Jugend ein, Hans wurde ein hoher HJ-Führer, Schorschi ein SA-Mann, einer ging sogar zur ss. Auch Erna brachte es als Scharführerin im BdM zu einer gedrehten Kordel von der Brusttasche zum Knopfloch ihrer weißen Hemdbluse. Und sie alle hatten damals in der Hecke hinter dem Opernplatz meine Entlarvungsszene miterlebt.
    Wir wohnten weiter zusammen in der Kaiserhofstraße, Hitler kam, der Judenboykott, die Kristallnacht, die Judenverfolgungen, der

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