Kaiserhof Strasse 12
zweite Vorliebe: die Politik. Er war Mitglied der KPD, kannte darum Mama und unsere Familie sehr gut und wußte auch etwas über unsere Herkunft. Als David, der Fotograf, mit seiner Frau und den Schwestern noch vor 1933 aus unserem Haus auszog - später emigrierten sie nach England -, nahm Albert eine andere Stelle an, und wir verloren ihn aus den Augen. Erst 1945 sah ich ihn wieder. Er gründete die Stadtteilgruppe Westend der KPD mit und war im Plakatkleben und Flugblattverteilen ebenso fleißig wie im Umgang mit Frauen. Die zwölf finsteren Jahre hatten seinen beiden Leidenschaften nicht viel anhaben können.
30. Januar 1933
An einem Nachmittag saßen Mama, der Arzt Sely Hirschmann und der Metallarbeiter Iwan Tabacznik in der Ecke am Fenster und unterhielten sich. Ich saß am großen Eßtisch in der Mitte der Stube und machte Schulaufgaben. Plötzlich hörte man die laute Stimme eines Zeitungsverkäufers auf dem Hof. Deutlich war »Extrablatt!« zu verstehen. Mama riß das Fenster auf, und da vernahmen wir es: »Hitler zum Reichskanzler ernannt!« Und noch einmal: »Hitler zum Reichskanzler ernannt! Extrablatt!« Auch Sely Hirschmann und Iwan Tabacznik waren aufgesprungen und schauten zum Fenster hinaus, als ob sie von dort noch mehr erfahren könnten.
Schnell wickelte Mama einen Groschen in ein Stück Zeitungspapier und warf ihn in den Hof hinunter. Der Zeitungsverkäufer hob das Geldstück auf und legte ein Blatt auf die Stufen zum Hintereingang. Ich mußte es hochholen.
Zu dritt starrten sie auf die wenigen Zeilen des Extrablatts.
Dann sagte Sely Hirschmann: »Mehr als sechs Monate geb' ich ihm nicht.«
Iwan Tabacznik meinte: »Nicht mal das.«
Und Mama: »Ein totgeborenes Kind.«
Mama macht sich Vorwürfe
Es mag im April 1933 gewesen sein, vielleicht auch schon im März, als in unserer Wohnung eine ziemliche Unruhe entstand. Politische Freunde von Mama kamen und berieten mit ihr hinter verschlossenen Türen. Beim Abendessen sagte sie: »Wir bekommen für einige Tage Besuch.« Und nach einer Pause: »Es ist jemand, der von der Polizei gesucht wird. Kein Mensch im Haus darf etwas davon erfahren.«
»Muß das sein?« fragte Papa und schüttelte verständnislos den Kopf. »Gibt es kein besseres Versteck als ausgerechnet unsere Wohnung? Müssen wir da auch noch mit hineingezogen werden?«
Gereizt gab Mama zurück: »Meinst du vielleicht, mir passt es?«
Ich mußte die hintere Kammer mit dem Fenster zum Lichtschacht räumen, und bereits am anderen Abend kam die Angekündigte, eine junge Frau. Sie hieß Franziska Kessel und war kommunistische Reichstagsabgeordnete, ich glaube, sie war zu der Zeit die jüngste deutsche Reichstagsabgeordnete überhaupt. Ich kannte sie gut von ihren früheren Besuchen bei Mama. Sie hatte bei der alten Frau Röhrig in der Adlerflychtstraße gewohnt. Nachdem Franziska Kessel untergetaucht war, wurde Frau Röhrig zwei Tage eingesperrt und dabei pausenlos verhört. Die alte Dame war »aus gutem Hause«, unverheiratet, und sympathisierte mit den Kommunisten. Sie unterstützte karitative und politisch linksorientierte Hilfsorganisationen mit Geldbeträgen, war auch selbst aktiv und stellte in den ersten Monaten der Hitlerzeit ihre Wohnung als Treffpunkt zur Verfügung. Nach dem Verbot der Linksparteien kümmerte sie sich um die Illegalen. Wiederholt wurde sie auf die Polizei bestellt und nach Personen befragt, die auf den Fahndungslisten standen. Zweimal kurz hintereinander durchsuchte die Gestapo ihre Wohnung bis in den kleinsten Winkel, weil sie hoffte, Hinweise auf Kommunisten zu finden. Trotzdem sah ich sie später gelegentlich bei den heimlichen Zusammenkünften der kleinen politischen Gruppe, zu der Mama gehörte und die sich fast ausschließlich aus jüdischen Intellektuellen zusammensetzte.
Bis sich Franziska Kessel an einem neutralen Ort verstecken konnte, sollte sie in unserer Wohnung bleiben, weil sie nach Meinung ihrer politischen Freunde bei uns für wenige Tage immer noch sicherer war als in einem Hotel. Mama hatte große Angst, die prominente Kommunistin könne ausgerechnet bei uns entdeckt werden. Darum drängte sie, daß Franziska Kessel uns bald wieder verlasse. Einmal hörte ich aus dem Nebenzimmer Teile eines erregten Gesprächs, bei dem Mama irgendwen beschwor, schnellstens ein anderes Quartier zu finden, die Polizei wisse doch, daß die Gesuchte mit ihr bekannt sei.
Ihr Drängen hatte Erfolg. Franziska Kessel verließ uns am darauffolgenden
Weitere Kostenlose Bücher