Kaiserhof Strasse 12
zurückgekommen sei, um einen Konstruktionsfehler am Schiebedach zu beheben, denn als er in der Nähe von Karlsruhe in einen richtigen Regen gekommen sei, habe sich das Dach als undicht erwiesen.
Wieder saß er mindestens zehn Tage im Hof und bastelte und schraubte. Dann fuhr er ein zweites Mal los, etwas weniger spektakulär und drei Stunden früher als das erste Mal, mit einer leicht veränderten Reiseroute, denn angesichts der anhaltenden Bürgerkriegsunruhen in China hatte er sich entschlossen, das Reich der Mitte links liegen zu lassen. Und als er um die Ecke der Kaiserhofstraße bog, zog er nur noch ganz kurz an der Klingelschnur.
Er war nun mal vom Pech verfolgt. Ohne seine Fahrradkutsche, die hatte er unterwegs irgendwo abgestellt, kehrte er vier Wochen später per Anhalter zurück. Er verkroch sich in seiner Kammer und war mehrere Tage für niemanden zu sprechen. Als er sich wieder zeigte, war er ein anderer und nicht mehr so gesprächig wie früher. Aber dann erzählte er doch, daß er den Wolf bekommen habe, jene schmerzhafte Entzündung am Gesäß. Trotz aller Salben sei der Wolf nicht zu heilen gewesen. Dreimal habe er ihn behandelt und dreimal versucht, erneut zu starten, dann habe er aufgegeben.
»Ich bin froh, daß er wieder da ist«, sagte die dicke Frau und faßte ihn liebevoll am Arm.
Nachzutragen bleibt noch, daß er schon ein Jahr darauf einen für einen Weltreisenden doch recht erbärmlichen Tod starb. Er hätte es viel mehr verdient, vom Medizinmann eines Papuastammes irgendwelchen Göttern geopfert zu werden, und noch eher hätte ich ihm gewünscht, er wäre mit seinem Fahrrad im ewigen Eis des Himalaja oder im glühenden Sand der Sahara steckengeblieben, als sich beim Schneeschippen, einer Notstandsarbeit für Stempelgeldempfänger, eine Lungenentzündung zu holen, von der er nicht mehr genas.
Kaiserhof Straße 12
Religionszugehörigkeit: »mosaisch« stand in unserem polizeilichen Meldebogen und in der Einwohnerkartei; so stand es auch in dem falschen Paß, den sich Papa aus Zürich besorgt hatte. In der Schule aber meldete Mama mich und Paula als »religionslos« an. Daraus wurde in den Klassenbüchern »freireligiös«. Was sich Mama dabei gedacht hat, weiß ich nicht, sie hat nie versucht, uns verständlich zu machen, warum wir unser Judentum verschweigen sollten, doch hielt sie uns an, es zu tun, obwohl wir zu dieser Zeit noch der Israelitischen Gemeinde angehörten. Und wir richteten uns danach. Einen Widerspruch gegen Mama gab es nicht.
Mir fiel das Verschweigen nicht schwer, denn ich hatte bisher nur schlechte Erfahrungen gemacht, wenn ich mich als Jude zu erkennen gab oder als solcher entlarvt wurde. Nicht besser erging es meinen Geschwistern. In der Volksschule wußte der Klassenlehrer von Paulas jüdischer Abstammung und verspottete sie deswegen oft vor der ganzen Klasse, und er wußte immer neue Schreckensgeschichten über die Juden zu erzählen. Mein Bruder Alex, obwohl auch er sich nie als Jude zu erkennen gab, bekam in der Schule einige Male Prügel, weil er sich schützend vor einen jüdischen Mitschüler gestellt hatte. Und da er nicht so ängstlich war wie ich und nicht weglief, kam er manchmal ziemlich ramponiert nach Hause. Mamas Tarnungsbemühungen waren voller Widersprüche.
Die meisten Bewohner des Hauses wußten, daß wir Juden waren, und doch schärfte sie uns Kindern ein, es niemandem zu sagen. Sie ließ Alex und mich mit allem jüdischen Zeremoniell beschneiden, und dann trat sie aus der Israelitischen Gemeinde aus. Als Paula 1934 die Schule verließ, ging Mama mit ihr zum »Arbeitsnachweis für jüdische Frauen und Mädchen« in die Lange Straße, wo Paula als kaufmännischer Lehrling in eine jüdische Firma vermittelt wurde. Dort blieb sie bis zu deren Zwangsliquidation im Jahr 1938.
Als sich schon längst kein Arier mehr von einem jüdischen Arzt behandeln lassen konnte, kam Dr. Maier, den jedes Kind unserer Straße kannte, mindestens einmal die Woche in unser Haus, um Mamas krankes Herz zu behandeln. Sie weigerte sich beharrlich, einen andern Arzt zu nehmen. Noch bis zum Spätsommer 1937 waren wir bei der »Jüdischen Wohlfahrtspflege« in der Königswarterstraße gemeldet. Jeden Mittag holten wir uns dort einen Tender voll Essen, zu Pessach (: Erinnerungsfest in der Osterzeit an den Auszug der Juden aus Ägypten, an dem während acht Tagen nur ungesäuertes Brot, »Mazza«, gegessen werden darf.) kostenlos Mazzes und im Winter Gutscheine für
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