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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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Menschen!« Wie ein von papierenen Pausbackenengeln gehaltenes Spruchband schwebte dieser Satz über unser beider Leid.
     
    Ungewöhnlich wie der Beginn war das Ende unserer Bekanntschaft. Rosa wurde verhaftet. Zwei Polizisten kamen am späten Nachmittag in die Vogelsgesanggasse und nahmen sie mit, nachdem sie ein paar Wäschestücke und einige Toilettensachen in ein Köfferchen gepackt hatte. Ich erfuhr es am Abend von ihren Hausgenossinnen. Eine solche Verhaftung war damals nichts Ungewöhnliches, in einer Zeit, da jeden Tag jemand verschwand, nicht registrierte Dirnen in Arbeitslager gesperrt wurden und Homosexuelle in Konzentrationslager.
    Aber warum hatte man Rosa verhaftet? Ich weiß es bis heute nicht, ich habe sie nie wiedergesehen, ich wagte nicht, in die Vogelsgesanggasse zu gehen und nach ihr zu fragen.
    Mama atmete auf, denn jetzt war ich wieder häufiger und früher zu Hause als in den Wochen zuvor.
    Wie sehr wünschte ich, Rosa hätte ohne Schaden die Hitlerzeit überstanden, und noch oftmals die Nase, die sie juckte, wenn sie müde war, an eine stachelige Männerbacke reiben und dabei, im Einschlafen, unverständliche Worte murmeln können, so wie sie es bei mir getan hat.
    Es war der herbe Geruch, der ihrem Nabel entströmte - ich glaube, es war die Stelle - und mich von Sinnen brachte und der - wenn ich in späteren Zeiten meine Frau liebte und all meine Sinnesorgane davon profitierten, nicht zuletzt meine Nase - mich immer wieder glauben machte, sie müßten beide dem gleichen Stamm entsprossen sein.
    Manchmal denke ich: zählt nicht auch Rosa zum Widerstand gegen das Naziregime?
     

Mimi - eine Liebe auf Zeit
    Acht Jahre war sie älter als ich, aber viele Jahre an Erfahrung reicher. Sie war klein, rundlich und anschmiegsam. Ihr sommersprossiges Gesicht strahlte Freundlichkeit aus, es schien, als ob immerzu ein Lächeln darauf läge. Sie liebte Musik, sang selbst gerne mit einer schönen Stimme, am liebsten Leoncavallos »Matinata«, und Tränen traten ihr in die Augen, wenn wir zusammen das »Allerseelen« von Richard Strauss intonierten. »Stell auf den Tisch die duftenden Reseden, die letzten Astern hol herbei, und laß uns von der Liebe reden, wie einst im Mai, wie einst im Mai.«
    Sie hatte eine große erotische Ausstrahlung, und sie war, wie alle Frauen dieser Art, die ich kennenlernte, verschwenderisch großzügig, wie mit ihrer Liebe, so mit Geld und Männern, großzügig in ihrer ganzen Lebenshaltung.
    Sie entstammte einer Schaustellerfamilie aus dem Sauerland. Stolz erzählte sie, daß es einer ihrer Brüder zu einem Autoscooter, einer elektrischen Berg- und Talbahn und einer Achterbahn gebracht hatte und somit zum gehobenen Mittelstand der Schausteller zählte.
    Ihre anderen Brüder, Onkel und Tanten zogen während der Sommermonate nur mit ein paar Schießbuden, Schiffschaukeln, Kinder- und Kettenkarussells, bestenfalls mit einem nicht gar so großen Russischen Rad zwischen der Ruhr und der Sieg von einem Jahrmarkt zum andern.
    Näher kamen wir uns in der kleinen illegalen Gruppe, die sich 1938 zusammenfand und der in den ersten Jahren auch Mama und Papa angehörten, denn ihre jüdische Zelle gab es seit der Kristallnacht nicht mehr, sie hatte sich durch Emigration und einige Verhaftungen von selbst aufgelöst.
    Jeder in der Gruppe wußte, wer wir Sengers in Wirklichkeit waren, aber niemand hatte Angst, wir könnten ein zusätzliches Risiko sein. Für mich war das Zusammensein mit politisch Gleichgesinnten kein Abenteuer. Ich empfand es auch nicht als eine zusätzliche Bürde zu der bedrückenden Situation zu Hause. Im Gegenteil, ich hatte außerhalb der Familie Gesinnungsfreunde, Leidensgenossen und fühlte mich in der Gemeinschaft geborgen. Für Stunden durfte ich aus meiner Maskerade herausschlüpfen und konnte ich selbst sein.
    Wohl könnte man unsere Gruppe als politische Zelle bezeichnen, aber die Untergrundtätigkeit blieb bescheiden. Unsere Stärke waren feierliche Zusammenkünfte aus besonderen Anlässen, zum 1. Mai beispielsweise, oder zum Gedenken an die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, oder zum 9. November, dem Tag der Russischen Oktoberrevolution. Die Rollen waren klar verteilt: Franz, Mimis Schwager, hielt das politische Referat, dann sprach Mary, seine Frau, mit viel Pathos ein zu dem Ereignis passendes Gedicht von Wladimir Majakowski oder Erich Weinert, und ich las ein eigenes Gedicht. Zum Schluß summten wir zusammen die Internationale, laut singen

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