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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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ein Hunderter mehr verfehlten nicht ihre Wirkung; und was ich kaum noch zu hoffen gewagt hatte: der Schreiner ließ sich überreden, Mama mit seinem Leichenwagen auf den Frankfurter Hauptfriedhof zu bringen. Er fragte nicht einmal danach, ob alle für die Überführung notwendigen Papiere vorhanden seien. Das setzte er als selbstverständlich voraus.
     
    Am 24. Oktober in der Frühe fuhren wir los. Es regnete und es war kalt. Ich saß neben dem nicht sehr gesprächigen Schreiner auf dem Kutschbock und fror. Ich glaubte, ständig den Blick von Mama auf meinem Rücken zu spüren, und wenn ich daran dachte, was sie zu einer solchen Überführung gesagt haben würde, dann beschlich mich ein unangenehmes Gefühl. Ich drehte mich immer wieder um in der Erwartung, Mama könne mir vielleicht doch noch etwas zu sagen haben, und mich fror noch stärker.
     
    Ich weiß, Mama, du würdest mit den Fäusten gegen den Sargdeckel getrommelt haben, wenn du gewußt hättest, was die Überführung gekostet hat und daß ich obendrein ohne Genehmigung losgefahren bin. »Meschugge seid ihr - alle miteinander!« So würdest du sagen. »Soviel Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Für was? Für ein Gojimnaches (: eine Narrheit, die man eigentlich nur Nicht-Juden (Gojim) zutraut.)? Was willst du? Dir die ewige Seligkeit erwerben, wenn du meine Leiche spazierenfährst? Oder was sonst? Glaub ja nicht, das ist eine Heldentat, so mir nichts, dir nichts nach Frankfurt zu fahren, und noch ohne Papiere.« Und dann wäre bestimmt dein immer wiederkehrender Vorwurf gekommen: »Als ob wir nicht schon genug Zores hätten!«
    Und wieder, wie so oft in früheren Zeiten, hättest du recht gehabt, Mama. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Wenn ich es genau überlege, hatte ich in deiner Nähe immer ein schlechtes Gewissen. Warum eigentlich?
    Ich will jetzt nicht mit dir darüber streiten, was ich richtig und was ich möglicherweise falsch gemacht habe. Dazu ist der Anlaß, die Fahrt mit dem Leichenwagen nach Frankfurt, viel zu traurig. Aber könntest du mir wenigstens sagen, Mama: Warum eigentlich hast du mir nur das Vorsichtigsein, das Verstecken, das Unscheinbarwerden beigebracht, immer nur den Rückzug, das Entschuldigen, das Ducken und Schweigen, so daß ich schließlich den ganzen Tag mit einem schlechten Gewissen herumlief?
    Du hast uns zu Duckmäusern erzogen. Ja, auch wenn du jetzt die Finger beider Hände krümmst, als umfaßten sie unsichtbare Kugeln, und beschwörend auf mich einredest: »Um des Überlebens willen, Walja! Doch nur um des Überlebens willen!« Mag sein. Trotzdem kann ich dir den Vorwurf nicht ersparen. Hättest du mir nur ein einziges Mal gezeigt, wie man draufschlägt!
    Du warst eine jüdische Mamme, wie sie im Buch steht. Für deine Familie hättest du dich in Stücke reißen lassen. Aber irgend etwas stimmte nicht, sonst hättest du nicht so viel falsch machen können. Lag es vielleicht daran, daß du deine südrussische Welt in die Kaiserhof Straße verpflanzen wolltest?
    In einem Meer von Lügen hast du uns schwimmen gelehrt und uns das Lügen zum Lebenselement gemacht. Natürlich kamen noch tausend Zufälle und einige Wunder hinzu, doch ohne die Lügen hätten auch die Wunder nichts genützt, um unser Leben zu retten. Aber was war das für ein Leben!
     
    Der Weg nach Offenbach zog sich endlos. Der Nieselregen hörte nicht auf, und der Schreiner schob den Kopf immer tiefer in den hochgestellten Mantelkragen und fluchte über das Wetter, die Pferde und die Fuhre. Anfangs hatte er ab und zu ein paar Worte mit mir gewechselt. Jetzt sprach er, wenn er nicht gerade fluchte, nur noch mit den zwei mageren Rappen vor dem Leichenwagen, beschwerte sich bei ihnen, nicht bei mir; und diese nickten im Schritt mit den Köpfen, als verstünden sie ihn und stimmten ihm zu. Dann schlug er auch mal mit der Peitsche lässig auf den schwarzen Regenschutz aus Wachstuch, den er, als der Regen stärker wurde, den beiden Pferden übergelegt hatte. Das gab jedesmal einen hellen Ton, vor dem die Pferde erschraken und deshalb für kurze Zeit etwas schneller gingen; bald aber fielen sie in den alten Trott zurück.
    Mit mir sprach der Schreiner gar nicht mehr, er war offenbar brojges (: mit jemandem böse sein) auf mich. Ich wußte nicht, warum, es könnte höchstens sein, daß es ihm jetzt leid tat, ja gesagt zu haben, oder daß er für das schlechte Wetter mich verantwortlich machte.
    Sollte er nur brojges sein, dann störte er mich auch nicht in meiner

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