Kaiserhof Strasse 12
leicht den Kopf zu mir und lächelte. Und während draußen das Feuer wütete und noch immer die Flak ballerte, erklommen meine Finger mutig den kleinen und schönsten Hügel einer Frau. Da legte sie noch einmal ihre Hand auf meine, aber nicht mehr einladend, sondern abwehrend, und sagte: »Hör auf! Wenn uns jemand sieht.«
Inzwischen hatten sich nämlich an den anderen Dachluken ebenfalls Hausbewohner aufgestellt und schauten nach den Bränden, immer zwei in einer Luke. Sie konnten bestimmt nicht sehen, was wir trieben, dafür war es zu dunkel, aber wenn die Frau des Bäckers ängstlich wurde, mußte ich es hinnehmen. Meine Hand schob sich zögernd auf ihren Bauch zurück, und ich begnügte mich, mit den Fingern die trichterförmige Nabelöffnung nachzuzeichnen. Auch das war sehr angenehm. So standen wir einige Zeit, und unser beider Atem ging schwer. Da löste sie sich mit Hintern und Rücken von mir, drehte sich herum und sagte leise: »Komm nachher runter. Ich warte auf dich.« Und sie verschwand im Dunkel des Treppenhauses.
Wie benommen blieb ich in der Dachluke stehen und starrte in die Feuerfackeln und Flächenbrände. Als schon längst niemand mehr auf dem Dachboden war, stand ich immer noch, roch die Haare und den leichten Schweiß im Nacken der Frau des Bäckers und spürte, als stünde sie vor mir, jeden unserer Berührungspunkte. Langsam ging ich die Treppe hinunter, über den Hof und hoch in mein Zimmer. Mama und Papa lagen bereits wieder im Bett, Paula hatte noch etwas in der Küche zu tun. Ohne mich auszuziehen, legte ich mich aufs Bett. Welch eine seltene Gelegenheit bot sich mir, eine Gelegenheit, von der ich bisher nur hatte träumen können. Ich brauchte nur aufzustehen, an die Tür dort unten zu klopfen, und es würde sich mir, leise knarrend, das Paradies öffnen.
Und doch zögerte ich. Da wartete achtzehn Stiegen tiefer eine Frau auf mich, und ich lag auf meinem Bett, rührte mich nicht, wog sorgsam alles Für und Wider ab und wußte genau, wohin das Abwägen führte - zu nichts. Ich lag auf meinem Bett und ließ die Frau des Bäckers warten.
Der Bäcker und seine Frau waren erst vor zwei Jahren in unser Hinterhaus eingezogen. Er war in der SA und hatte, bevor er vor einem halben Jahr zu den Soldaten mußte, sich häufig in seiner SA-Uniform sehen lassen. Sie war in der NS-Frauenschaft und trug auf dem Mantel eine große Nazibrosche. Im Luftschutzkeller munterte sie die um ihr Leben bangenden Hausbewohner mit Durchhaltesprüchen auf, die sie aus der NS-Frauenschaft mitgebracht hatte.
Die nächsten Tage versuchte ich, ihr aus dem Weg zu gehen. Aber ich konnte es doch nicht vermeiden, daß wir uns begegneten. Sie war eisig, grüßte mich kaum, nur einmal im Treppenhaus zischte sie mir zu: »Du Feigling!«
Mit einer dummen, unlogischen Eifersucht mußte ich in der Folgezeit feststellen, daß die Frau des Bäckers beileibe nicht auf mich angewiesen war, trotz der kriegsbedingten Männerknappheit. Immer korrekt mit »Heil Hitler!« grüßend und im Luftschutzkeller, wenn die Bomben herniederprasselten, Durchhaltesprüche plappernd, war sie dennoch eine eifrige NS-Frauenschaftlerin und blieb ihrem Führer treu.
Mamas letzte Fahrt
Ihr Leben war schwer, nicht weniger ihr Sterben. Bis im Herbst 1944 das kranke Herz endgültig zu schlagen aufhörte, hatte es sich Monate und Jahre verzweifelt weitergequält, flackernd wie eine verlöschende Kerze. Damals wohnten wir alle schon bei Mimi in Jügesheim. Mama war nicht bereit aufzugeben, denn sie wollte den Tag noch erleben, wo sie hätte sagen können: »Wir haben es geschafft! Von heute an brauchen wir keine Angst mehr zu haben.«
Wer von uns kannte dieses Gefühl: keine Angst mehr haben? Wir Kinder hatten es nie erlebt, Mama und Papa hatten es bestimmt vergessen, doch wie oft hatten wir uns den Tag ausgemalt, an dem wir frei sein würden von Angst.
Mama hätte es verdient, nach all dem, was sie an Ängsten durchlitten hat, und sie würde den Tag erlebt haben, ganz sicher, wenn dort, wo über Leben und Tod entschieden wird, noch ein Funke Gerechtigkeit wäre.
Was ich mich bei der lebenden Mama nie getraut hatte, holte ich jetzt bei der toten nach. Ich konnte ihr endlich einmal meine ganze Liebe und Zuneigung geben, und sie hatte Zeit, sie entgegenzunehmen. Ich nahm ihren Kopf in die Hände, strich ihr die grauen Haarsträhnen aus dem Gesicht, schloß ihr die Augen und küßte sie, das erste Mal. Papa weinte fassungslos, fragte schluchzend:
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