Kaiserhof Strasse 12
niemandem würde es hier einfallen, einen Leichenwagen zu kontrollieren. Es hatte zu regnen aufgehört, und so war die Einfahrt der toten Mama in Frankfurt doch ein wenig freundlicher als die Fahrt von Jügesheim bis zur Stadtgrenze.
Eine halbe Stunde lang ging es nun über das Kopfsteinpflaster der Hanauer Landstraße stadteinwärts. Es war eine scheußliche Strecke. Die Pferdehufe knallten auf das Pflaster, der Wagen wurde durchgeschüttelt und ächzte in einem fort, und der Hintern schmerzte mich trotz der Decke, die auf der Sitzbank ausgebreitet war.
Mitten in dem engen Straßengewirr Bornheims gab es Vollalarm. Wir fuhren zum nächsten öffentlichen Luftschutzkeller, der Schreiner band die Pferde an eine Laterne fest, und wir gingen in den Keller hinunter.
Was würde geschehen, ging es mir durch den Kopf, während wir eingezwängt inmitten der meist älteren, verängstigten Menschen saßen, die gleich uns hier unten in dem feuchten Kellergewölbe Schutz suchten, wenn in der Nähe Bomben fielen, was doch leicht möglich war, und die Pferde sich losrissen? Ich stellte mir vor, wie die beiden wild gewordenen Rappen mit der toten Mama kutscher- und zügellos durch die Bornheimer Straßen jagten und der Leichenwagen womöglich in einer Kurve umstürzte - und ich wurde von Minute zu Minute nervöser.
Ich erinnere mich noch, daß eine Frau aufgeregt in den Luftschutzkeller in der Wittelsbacher Allee kam, wo wir saßen, und fragte, wer der Kutscher des Leichenwagens sei. Als sich der Schreiner von Jügesheim bemerkbar machte, überhäufte sie ihn mit Vorwürfen, warum er den Wagen nicht hundert Meter weiter abgestellt habe, ob er denn wolle, daß der Tod auf dieses Haus gelenkt werde. Das wollte er natürlich nicht. Die Menschen im Keller schwiegen. Offenbar fand keiner die Bemerkung dumm. Und ich möchte nicht wissen, wie viele im stillen wirklich dachten: Hätte er seinen Leichenwagen doch hundert Meter weiter abgestellt!
Wir hatten Glück, an diesem Vormittag fielen keine Bomben auf Bornheim. Eine halbe Stunde später war Entwarnung.
Da wir uns bereits dem Hauptfriedhof näherten, konnte ich es nicht mehr hinauszögern, den Schreiner darüber aufzuklären, daß ich weder eine Überführungsgenehmigung noch eine Bestätigung des Frankfurter Bestattungsamtes zur Beerdigung des Leichnams hatte. Ich mußte es ihm vor der Ankunft auf dem Friedhof sagen, denn mein Plan, wie ich den Sarg mit der toten Mama in Frankfurt loswerden wollte, schloß, wenn es die Umstände verlangten, die Mitwirkung des Jügesheimer Sargschreiners und Leichenbestatters Franz Winter ein.
Doch so schlimm, wie es dann kam, hatte ich es mir nicht vorgestellt. Der Schreiner war außer sich, wollte auf der Stelle umdrehen und nach Jügesheim zurückfahren. Er lenkte die Pferde an den Straßenrand und hielt den Wagen an. Ich versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen. Auf dem Bürgersteig wurden bereits die Leute auf uns aufmerksam. Es war mir äußerst unangenehm.
Diese heftige Reaktion des Schreiners war typisch für die damalige Zeit. Er war zu Tode erschrocken, etwas getan zu haben - wenn auch ahnungslos und gegen seinen Willen -, was behördlichen Anordnungen zuwiderlief. Nach zehn Jahren Faschismus war in den Deutschen nichts so ausgeprägt wie die Angst vor der Partei und der staatlichen Gewalt. Geringste Verstöße und Verbotsüberschreitungen wurden wie Kapitalverbrechen empfunden und meist auch so geahndet. Und entsprechend reagierten die Menschen. Ihr Verhältnis zueinander und ihr Verhalten gegenüber den offiziellen Partei- und Staatsorganen war von der Angst bestimmt.
Auch ich lebte viele Jahre in Angst - in einer ganz anderen Angst, denn mein und meiner Familie Zittern vor dem Entdecktwerden ist nicht vergleichbar mit den Ängsten der deutschen Bevölkerung im Dritten Reich. Trotzdem und vielleicht auch gerade darum war ich später bemüht, für diese Ängste ein wenig Verständnis zu finden.
Auch der Schreiner wurde von dieser Angst beherrscht. Er wollte unter keinen Umständen etwas mit der Polizei zu tun haben. Seine größte Sorge war, man könne seinen Leichenwagen beschlagnahmen. Es gelang mir nicht, ihm das auszureden, so sehr ich mir auch Mühe gab. Allmählich beruhigte er sich, schien einzusehen, daß er jetzt nicht mehr einfach zurückfahren könne. Er fragte mich, wie es nun weitergehen solle.
Vielleicht fünfzig Meter neben dem neuen Haupteingang zum Friedhof befand sich ein etwas kleineres Tor, durch das stets die
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