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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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»Was soll jetzt aus uns werden?« und warf sich über die tote Mama. Wir andern gingen hinaus und ließen ihn allein mit seinem Schmerz.
    Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, Mama nicht in Jügesheim, sondern in Frankfurt beerdigen zu lassen. Natürlich nicht auf dem jüdischen Friedhof, weil das ja nicht ging. Aber auch auf einem Christenfriedhof war das Ende 1944 nicht so einfach. Durch einen Telefonanruf beim Frankfurter Bestattungsamt erfuhr ich, daß man in Frankfurt kaum noch imstande war, alle Menschen, die eines natürlichen Todes gestorben und die im Bombenhagel alliierter Luftangriffe getötet worden waren, ordentlich zu bestatten. Deshalb hatte man strenge Anweisung erteilt, keine Leichen von außerhalb anzunehmen, und alle Gemeinden waren angewiesen, keine Überführungen mehr zu genehmigen.
    Ausgerechnet in diesem für das Schicksal unserer Familie vollkommen unwichtigen Punkt - schließlich war es doch gleichgültig, ob Mama ihre letzte Ruhe auf einem christlichen Friedhof in Jügesheim oder in Frankfurt fand -, ausgerechnet da rührte sich bei mir der Widerstand: Mama sollte nach Frankfurt, mit oder ohne Genehmigung.
    Auch wenn es noch so dumm und unvernünftig, vielleicht sogar riskant war, ich konnte nicht anders. Das erste Mal durfte ich allein bestimmen, denn man überließ mir sofort die Führungsposition in der Familie, die Mama bis zu ihrem Tod in Händen gehalten hatte. Ich mußte bei der ersten Gelegenheit eine Entscheidung treffen, die Mama bestimmt nicht getroffen hätte. Oif Zeluches - wie sie gesagt haben würde und was so viel heißt wie »jetzt erst recht« oder »und wenn es euch allen nicht paßt« - oif Zeluches sollte Mama nach Frankfurt.
    Im Oktober 1944, als Tag und Nacht amerikanische und britische Flugzeuge in Deutschland einflogen und ihre Bomben auf Städte und Dörfer warfen, war es nicht einfach, jemanden zu finden, der sich bereit erklärte, die Leiche nach Frankfurt zu überführen. Die Fahrt von Jügesheim über Offenbach dauerte mit einem Pferdewagen gut drei Stunden. Genau genommen, waren es aber keine drei, sondern sechs Stunden, drei hin und drei zurück, den Aufenthalt in Frankfurt gar nicht eingerechnet und auch nicht die Verzögerungen durch Fliegeralarm, mit dem täglich gerechnet werden mußte.
    Die einzig mögliche Beförderungsart war die mit Pferden, denn in dieser Phase des Kriegs gab es für solcherlei Privatfahrten schon längst kein Benzin, keine Autos und auch keine Sondergenehmigungen mehr.
    Allein der Dorfschreiner Franz Winter, der gleichzeitig Sargmacher und Leichenbestatter der Gemeinde Jügesheim war, kam für diesen Leichentransport in Frage, denn ihm gehörte der schöne ebenholzglänzende Leichenwagen mit den gekreuzten silbernen Palmblättern an den Seiten und auf der Rückfront, der in der Remise neben der Leichenhalle stand.
    Als er und sein Geselle zu uns ins Trauerhaus kamen, um Mama einzusargen, mußten sie den Sarg im unteren Flur abstellen und den in das Bettlaken eingehüllten Leichnam die schmale Treppe hinuntertragen. Dabei wurde der leblose Körper stark gekrümmt, und aus dem Mund der toten Mama preßte sich ein schrecklicher Ton, der wie ein tiefes Schnaufen klang. Als der Schreiner den Sarg schloß, nutzte ich die Gelegenheit, ihn danach zu fragen, ob er die Tote - natürlich für ein gutes Geld - nach Frankfurt überführen wolle.
    Ob man so etwas schon gehört habe, entrüstete er sich, mit dem Leichenwagen bis nach Frankfurt! Warum ich denn nicht gleich nach Amerika wolle! Wie ich mir das überhaupt vorstelle, wo dauernd die Bomber einflögen. Ich sei doch aus Frankfurt, da müsse ich eigentlich wissen, was sich dort und auch in Offenbach abspiele und nicht zuletzt im Frankfurter Osthafen, wo wir ja auch durchfahren müßten. Dieses Risiko gehe er nicht ein, fuhr der Schreiner fort, und wenn ich ihn noch so gut dafür bezahle, ich solle mir die Idee, meine Mutter in Frankfurt zu beerdigen, aus dem Kopf schlagen, die habe draußen auf dem Jügesheimer Friedhof genauso ihren Frieden wie in Frankfurt.
    Aber die Überführung nach Frankfurt war inzwischen schon zu einer Machtprobe mit mir selbst geworden, ich kam nicht mehr davon los. Darum ging ich am Abend noch einmal zu dem Schreiner und Leichenwagenbesitzer, in der Tasche eine Flasche Schnaps, wohlbehütet seit langem zur Erledigung besonders schwieriger Angelegenheiten.
    Meine Lügengeschichte vom letzten Wunsch der Mama, in Frankfurt zur Ruhe gebettet zu werden, der Schnaps und

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