Kaisertag (German Edition)
gezogener Hügel aufragenden Reste der Wallanlagen südlich des Platzes.
Rabenacker musste zugeben, dass er diese Möglichkeit noch nicht in Betracht gezogen hatte, was ihm erkennbar unangenehm war. Da keiner seiner Leute greifbar war, wollte er sich dort selber umsehen, doch Friedrich Prieß widersprach:
»Nicht nötig, das werde ich übernehmen. Dazu bin ich ja schließlich hier. Außerdem wird es Zeit, dass ich auch mal wieder etwas Sinnvolles tue. Wann treffen wir uns hier wieder?«
»Um viertel vor zehn«, schlug Alexandra nach kurzem Nachdenken vor. »Vorher muss ich noch die Räumung der Marienkirche leiten und soll danach noch bei Rommels Begrüßung anwesend sein. Es bleibt dabei, dass der Feldmarschall um halb zehn hier eintrifft?«
Oberst Rabenacker nickte. »Ja, eine Stunde vor dem Kaiser. Falls einer von uns dem Feldmarschall etwas mitzuteilen hat, muss das über Senator Frahm geschehen, bitte denken Sie alle daran. Wir wollen alles vermeiden, was Verdacht erregen könnte, und –«
Mitten im Satz brach der Oberst ab; ein Mann im grauen Kittel der Meßter-Wochenschaustudios kam zwischen den Lastwagen hervor und rollte im Gehen ein dickes schwarzes Stromkabel von einer großen Rolle ab. Verwundert sah der Kabelträger die kleine Versammlung am Sockel der Statue, murmelte einen Gruß und verschwand dann wieder.
»Also gut«, sagte Alexandra, nachdem er fort war, »dann werde ich mich nun auf den Weg zur Marienkirche machen. Wahrscheinlich wartet man schon auf mich.«
»Und ich schaue mich jetzt in den Wallanlagen um«, meinte Prieß und wandte sich schon zum Gehen, als Yvonne Conway verkündete:
»Ich komme mit Ihnen, Herr Prieß. Vier Augen sehen mehr als zwei, denken Sie nicht auch?« Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und folgte dem Detektiv, der stumm seufzte.
Der Mann klopfte sich den feinen Zementstaub vom Anzug und nahm den Raum, den er über die steile Stahltreppe erreicht hatte, in Augenschein. In den Ecken lagen Stapel mörtelverkrusteter roher Bretter, und unregelmäßige Haufen von Ziegelschutt bedeckten den Boden. Er nickte zufrieden. Hier würde er völlig ungestört auf den entscheidenden Moment warten können. Dann trat er an die große Fensteröffnung, die erst vor Kurzem in die dicke Backsteinmauer gebrochen worden war, und sah kurz hinaus.
Perfekt, könnte gar nicht besser sein , dachte er.
Vorsichtig stellte er den länglichen Lederkoffer, den er in der linken Hand trug, auf den Boden, ging in die Hocke, ließ die Messingverschlüsse aufschnappen und öffnete den Deckel.
Der Anblick des Gewehrs in dem Koffer erfüllte ihn mit Bewunderung. Er ließ die Fingerspitzen über das glatt polierte Holz des Kolbens gleiten. Sie war wirklich eine Schönheit, die Lee-Enfield Empress; elegant wie ein Puma, der in angespannter Aufmerksamkeit lauert. Und man konnte ihr ansehen, dass sie auch ebenso gefährlich war. Gemeinsam mit der Mauser 62 führte sie einsam die Liste der besten Präzisionsgewehre der Welt an, keine andere Waffe kam diesen beiden auch nur im Entferntesten gleich. Die deutsche Mauser mochte geringfügig genauer sein, doch sie war ein kaltes Stück Technik, ihr fehlte die düstere Faszination, die von dem britischen Gewehr ausging. Und in den Händen eines guten Scharfschützen, der das brillante Zielfernrohr richtig zu nutzen verstand, war die Empress so tödlich, wie man es sich nur wünschen konnte. Mit einem solchen Gewehr schießen zu dürfen, war ein Vergnügen, mehr noch, eine Ehre, die nur wenigen zuteilwurde.
Der Schütze betrachtete die Waffe fast liebevoll. Dann, nach einer Weile, klappte er den Deckel des Koffers wieder zu, lehnte sich an die raue Ziegelwand und schloss die Augen. Nun brauchte er nichts weiter zu tun, als auf sein Ziel zu warten.
Als Alexandra bei St. Marien eintraf, warteten dort bereits drei Schutzmänner auf ihre Befehle. Einen postierte sie am einzigen geöffneten Eingang, wo er dafür sorgen sollte, dass ab sofort niemand mehr hineinkam. Mit den beiden anderen begab sie sich ins Innere der Kirche, um die bereits anwesenden Besucher höflich, aber bestimmt aufzufordern, nun zu gehen.
Dass der Kaiser nach den Feierlichkeiten noch die Marienkirche besichtigen würde, hatte schon lange festgestanden. Aber der Schock von Kronsforde hatte eine Flut von zusätzlichen Sicherheitsbestimmungen aus Berlin ausgelöst, zu denen auch die Forderung gehörte, dass die Kirche vor der Ankunft Kaiser Wilhelms V. vollkommen geräumt und
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