Kaisertag (German Edition)
Boden, stellte das Patronenkästchen auf die unebene Brüstung der Fensteröffnung und schaute hinaus, während er das Gewehr lud, um sich mit den Gegebenheiten vertraut zu machen. Seine Aufgabe konnte kaum einfacher sein. Er würde ein vollkommen freies Schussfeld und ein unbewegtes, leicht auszumachendes Ziel haben; selbst ein nur durchschnittlicher Schütze konnte hier kaum etwas verkehrt machen. Ja, sogar mit einer so minderwertigen Waffe wie einer italienischen Mannlicher-Carcano wäre es unter so idealen Bedingungen ein Leichtes, mit dem ersten Schuss einen Volltreffer zu erzielen. Und mit einem Schmuckstück wie der Lee-Enfield Empress war es das reinste Kinderspiel.
Er entnahm dem Kästchen eines der schlanken Geschosse und legte es in das Patronenlager des Gewehrs. Zwischendurch sah er immer wieder hinüber zur Treppe. Aber das war reine Gewohnheit, fest eingeprägt in Jahren der Ausbildung. Er musste nicht mit unerwartetem Besuch rechnen, denn unten am Eingang standen zwei seiner Kameraden, an denen niemand vorbeikam.
Er horchte auf.
Plötzlich war Marschmusik zu hören, abgedämpft durch die Entfernung, aber doch deutlich genug. Schnell legte er die Waffe beiseite, zog das schwarz mattierte Kleinstfernglas aus der Hosentasche und spähte durch die neunfach vergrößernden Linsen nach draußen.
Auf dem Hanseplatz hielten vor der Ehrentribüne zwei schwarze Limousinen, von denen eine den Stander eines Feldmarschalls führte; von allen Seiten strömten die Menschen zusammen. Das musste Marschall Rommel, der Graf von Kai-Feng sein, der aus einer Laune heraus erst am Tag zuvor überraschend beschlossen hatte, auch beim Lübecker Kaisertag zu erscheinen.
Mit einem Kopfschütteln steckte der Schütze das Fernglas wieder ein. Dieser Tag würde wieder drückend heiß werden, und der Marschall ging, soweit er wusste, auf die hundert Jahre zu. Wieso musste sich der alte Mann ausgerechnet bei so einem Wetter in den Vordergrund drängen? Am Ende würde dieser Sonntag vielleicht noch mit zwei Toten ausgehen – einer getroffen von einer Kugel aus dem Lauf einer Lee-Enfield Empress, der andere getroffen vom Hitzschlag. Aber das war das Problem des greisen Feldmarschalls, dachte der Scharfschütze achselzuckend. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Waffe zu.
»Aber irgendwo muss er sich doch verkrochen haben!«, schimpfte Prieß verärgert und drückte mit einer weit ausgreifenden Bewegung der Arme die widerspenstigen Äste der fast brusthohen Büsche nach den Seiten fort. Gemeinsam mit Yvonne Conway hatte er die üppig bewachsenen, steilen Böschungen des ehemaligen Festungswalls abgesucht, doch den Scharfschützen hatten sie dabei nicht gefunden. Und auch jetzt war alles, was Prieß zwischen dem verfilzten Buschwerk entdeckte, eine achtlos fortgeworfene kleine Kräuterlikörflasche.
Missmutig ließ er die Zweige wieder in ihre ursprüngliche Position schnellen und bahnte sich seinen Weg zurück zum Spazierweg, wo ihn die Engländerin mit bedauerndem Gesichtsausdruck erwartete.
»Und Sie sind sich auch ganz sicher, dass ich Ihnen nicht helfen soll?«, fragte sie, als Prieß aus dem Gebüsch trat und begann, sich die Kletten und Insekten abzuklopfen, die sich am Stoff der Uniform verfangen hatten.
»Ganz sicher, Miss Conway«, erwiderte der Detektiv. »Das kann ich einer Dame doch nicht zumuten.«
Außerdem, so setzte er in Gedanken hinzu, würde sie mit ihrem langen Sommerkleid ständig an Ästen hängen bleiben und dadurch die Suche nur unnötig bremsen, was sie zweifellos auch sehr wohl wusste. Er fegte angeekelt eine große Spinne vom Degengriff und meinte dabei: »Nein, es reicht wirklich völlig aus, wenn Sie mich auf Stellen hinweisen, die Ihrer Ansicht nach geeignete Verstecke für einen Attentäter sein könnten. Auf dem Gebiet gestehe ich Ihnen neidlos die größere Kompetenz zu. Sie zeigen auf ein Stück Wildnis, und ich kämpfe mich dann kühn durch den Urwald. Auf diese Weise ergänzen wir uns prächtig.«
Die Engländerin quittierte die ironische Bemerkung mit einem Lächeln. »Wie schmeichelhaft, dass Sie mir solche Wertschätzung entgegenbringen. Allerdings – momentan sieht es doch ganz so aus, als hätte ich mich gründlich geirrt. Keine Spur von dem Schützen. Ich kann das gar nicht verstehen, denn wenn ich ein solches Attentat ausführen wollte, dann wäre dieser Wall meine erste Wahl als Standort.«
Prieß nahm die Pickelhaube ab und wischte sich mit dem Handrücken den
Weitere Kostenlose Bücher