Kaisertag (German Edition)
dort vorüberzog, kannte er zur Genüge: Sandige Kartoffeläcker, magere Wiesen, hier und da einige zusammengedrängte Bäume. Nichts, was das Auge über längere Zeit zu fesseln vermochte. Und er war auch nicht in der Stimmung, die eigenwilligen Reize der Mark Brandenburg auf sich wirken zu lassen.
Niemand außer ihm befand sich in dem geräumigen Salonwagen, er saß alleine inmitten der samtüberzogenen und vergoldeten Pracht früherer Jahrzehnte und hatte die Türen verriegelt, um wenigstens eine oder zwei Stunden lang ungestört zu sein. Mit einigen Handgriffen öffnete er den hohen Kragen und die obersten Knöpfe der steifen, ordensgeschmückten Paradeuniform, in der er sich jedes Mal aufs Neue unwohl fühlte; ohnehin mochte er das militärische Gehabe, das ihn überall umgab, nicht sehr. Dann lehnte er sich in dem weich gepolsterten Sessel zurück und warf nun doch einen Blick nach draußen, in der vagen Hoffnung, dort vielleicht etwas zu entdecken, das dem Geist zumindest ein wenig Nahrung bot. Aber alles, was er sah, war die monotone Langeweile endloser Weiden und dürrer Kiefernwäldchen. Und das transparente Spiegelbild seines eigenen Gesichts auf der vibrierenden Glasscheibe.
Er war ein ungewöhnlich gut aussehender junger Mann, mit dichtem, dunkelbraunem Haar und markanten, aber nicht aufdringlichen Zügen. Vermutlich hatte die Mehrzahl der Mädchen im Backfischalter sein Porträt in ihren Zimmern aufgehängt, aber nicht etwa, weil er der Kaiser war, das Oberhaupt von fünfundachtzig Millionen Deutschen und Herrscher über ein weltumspannendes Kolonialreich, sondern aus sinnloser, schmachtender Schwärmerei heraus. Bei dem Gedanken daran, wie ihn erst zwei Wochen zuvor beim Besuch eines Lyzeums die Schülerinnen gegen jedes Protokoll und zum Entsetzen der Schulleiterin umringt hatten, musste er grinsen. Doch es dauerte nur einen Lidschlag, dann kehrte der Ernst wieder zurück. Innerhalb kurzer Zeit hatte er erst seinen Vater und den älteren Bruder, dann seinen Großvater verloren, war im Eilverfahren vorzeitig für volljährig erklärt und nahezu unvorbereitet auf den Thron gesetzt worden, als die Tinte der Unterschriften auf seinem Abiturzeugnis noch nicht einmal getrocknet war. Das hatte Spuren hinterlassen, Bruchstellen in der Seele, deren scharfe Kanten nur langsam abstumpften.
In der ersten Zeit waren Trauer und Orientierungslosigkeit übermächtig gewesen, und er hatte von dem, was um ihn herum geschah, kaum etwas tatsächlich wahrgenommen. In den letzten Monaten aber hatte sich das zu ändern begonnen. Und nun merkte er, wie Tag für Tag die Unzufriedenheit in ihm anwuchs. Er war unzufrieden, weil er bemerkte, dass ihn ständig die alten Berater und Vertrauten seines Großvaters umgaben, ihm Ansichten und Entscheidungen aufzunötigen versuchten. Aber er wollte sich seine Meinung nicht vorkauen lassen und tat immer häufiger, was er selbst für richtig hielt. Und wenn er in einer Woche von den Manövern der Ostseeflotte zurückkehrte, würde er die aufdringlichen Besserwisser endgültig ohne Ausnahme in die Wüste schicken.
Dass sie ihn wochenlang gedrängt hatten, zu dieser völlig unwichtigen Feier nach Lübeck zu fahren, bis er schließlich nachgab, nur um endlich seine Ruhe zu haben, hätte er vielleicht noch hingenommen. Aber die Konferenz mit seinen Beratern und den Vertretern der Reichsregierung und des Generalstabs hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Er hatte die Teilmobilmachung nicht verkünden wollen; die Art, wie Militärs Probleme zu lösen versuchten, indem sie mit dem Säbel rasselten, war ihm zuwider. Ja, er fand sie in einer solchen Lage einfach nur leichtsinnig und verantwortungslos. Doch die eindringlichen Beschwörungen der alten Ratgeber, das einschüchternde eiserne Selbstbewusstsein der hohen Offiziere, hatten ihn dann gegen seinen Willen dazu getrieben, seine Unterschrift auf das vorbereitete Dokument zu setzen. Danach war ihm klar gewesen, dass er sich niemals mit seiner eigenen Meinung würde durchsetzen können, solange er von diesen mit Orden und Titeln dekorierten lebenden Fossilien umgeben war, deren Präsenz etwas Erdrückendes an sich hatte.
Wo waren sie jetzt überhaupt, diese Leute, die sonst von morgens bis abends anhänglich wie Kletten seine Umgebung bevölkerten? Acht von ihnen, der Oberhofmarschall und eine Handvoll anderer, hatten ihn ursprünglich auf dieser Fahrt begleiten sollen. Aber alle hatten sich mit Hinweis auf eine plötzliche Erkrankung
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