Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kaisertag (German Edition)

Kaisertag (German Edition)

Titel: Kaisertag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
Vom Netzwerk:
kontrolliert werden sollte. Und die Lübecker Senatoren waren mehrheitlich der Auffassung gewesen, eine derart wichtige Aufgabe müsse von der Polizeipräsidentin in eigener Person wahrgenommen werden. Alexandra hatte versucht, ihnen auf rücksichtsvolle Weise klarzumachen, dass diese Aktion selbst ein erfahrener Hauptwachtmeister hätte übernehmen können, doch sie hatte schnell gemerkt, dass es vergebliche Mühe war. Als sie jetzt zusammen mit den beiden Polizisten in das hohe Kirchenschiff trat, spürte sie einen klammen Luftzug an sich vorüberstreichen. Draußen mochten die Temperaturen unaufhaltsam der 30-Grad-Marke entgegenstreben, doch die mächtigen Mauern verwehrten der Hitze den Einlass. Es war kühl, so kühl, dass Alexandra schauderte.
    Was soll ich hier überhaupt? , dachte sie. Dänische Terroristen gibt es gar nicht, und der Attentäter der Puppenspieler wird wohl kaum so dumm sein, sich an einem Ort auf die Lauer zu legen, der garantiert durchsucht wird. Ich bin hier völlig überflüssig.
    Sie wollte die Sicherung der Kirche möglichst rasch hinter sich bringen, es gab Wichtigeres zu tun. Wenigstens war es noch früh am Tag; St. Marien war erst eine Stunde zuvor geöffnet worden, sodass noch nicht viele Touristen den Weg in die berühmte Ratskirche gefunden hatten. Plötzlich kam es Alexandra zu Bewusstsein, dass es viel einfacher gewesen wäre, die Marienkirche an diesem Tag von Anfang an für die Öffentlichkeit zu sperren. Dazu wäre nur eine Anordnung des Senats nötig gewesen, da ja bis auf den Dom ohnehin alle Kirchen der Stadt dem Lübecker Staat unterstanden. Verdrießlich fragte sie sich, wieso weder sie selber noch jemand anders auf diese naheliegende Lösung gekommen war, die ihr viel überflüssigen Aufwand erspart hätte.
    Alexandra, für die es hier eigentlich außer der bloßen Demonstration ihrer Anwesenheit nichts zu tun gab, ging unruhig einige Schritte auf und ab. Die erzwungene Untätigkeit machte sie nervös. Dann entschloss sie sich, ihren Polizisten Arbeit abzunehmen, selbst wenn das keine Aufgabe war, die ihrem Rang entsprach. Sie machte sich auf, um zu sehen, ob sich jemand im Chorumgang hinter dem barocken Hochaltar aufhielt.
    Unter einem der hohen, bleigefassten Fenster aus buntem Glas blieb sie für einen Moment stehen. Es zeigte in den schon erstarrten Formen des ausklingenden Jugendstils den heiligen Michael, flankiert vom doppelköpfigen Lübecker Adler und dem Reichsadler, über dessen drohendem Haupt die Krone Karls des Großen schwebte. Eine vor gar nicht langer Zeit sorgsam polierte Messingplakette an der Wand verkündete in kantiger gotischer Schrift, dass Seine Majestät Kaiser Wilhelm II. dieses Fenster anlässlich seines Aufenthaltes in Lübeck im Jahre 1913 gestiftet hatte und dass es im April 1915 im Beisein Seiner Kaiserlichen Hoheit des Kronprinzen eingeweiht worden war.
    Und nun sollte Wilhelm V. dieses Fenster bewundern, das sein Ururgroßvater der Stadt zu schenken geruht hatte. Alexandra hätte zu gerne gewusst, welcher der unzähligen Beamten des Berliner Protokollamtes auf diese Idee gekommen war.
    Sie ging weiter, hinüber zur riesenhaften Astronomischen Uhr auf der Rückseite des Hochaltars. Für gewöhnlich standen hier Bildungsreisende aus aller Herren Länder, bestaunten das über vierhundert Jahre alte Meisterwerk der Feinmechanik, während sie in den mehrsprachigen Büchlein blätterten, die man für einen Groschen beim Küster erhielt und in denen der Mechanismus erläutert wurde. Voller Vertrauen in die Dauerhaftigkeit seines Werkes hatte der geniale Uhrmachermeister Skalen konstruiert, die dazu vorgesehen waren, noch Jahrhunderte nach seinem Tod das genaue Datum, Mondphasen und Sternenkonstellationen anzuzeigen. Das Wunderwerk mit den großen, vielfach unterteilten Zifferblättern zog zahllose Interessierte an; doch heute fand Alexandra hier niemanden vor. Und auch in der gegenüberliegenden Sängerkapelle, dem Abschluss des Chors nach Osten, befand sich kein einziger Mensch.
    Dann aber, als sie ihren Weg fortsetzte, hörte Alexandra, wie ein Reiseleiter seinen Zuhörern mit diskret gedämpfter Stimme und kehligem schweizerischen Akzent die Figuren des Totentanzfrieses erläuterte. Als die Polizeipräsidentin hinzukam, hatte die Reisegruppe die Seitenkapelle bereits wieder verlassen und stand nun unterhalb des Lettners mit der reich verzierten Sängerempore. Die Leute hatten sich im Halbkreis um ihren Führer versammelt, der auf die bunt

Weitere Kostenlose Bücher