Kaisertag (German Edition)
ausführlichen Lebenslauf verlangt – inklusive genauer Angaben zu allen lebenden Verwandten.«
»Genial«, sagte Prieß ohne eine Spur von Ironie, »darauf wäre ich nicht gekommen.« Er hatte immer geglaubt, Kombinationskunststücke wie dieses wären nur das Produkt der Phantasie von Krimiautoren.
Doch noch war das gesamte Gedankengebäude pure Theorie; es stand und fiel mit dem Lebenslauf, der bisher nur als Ergebnis einer Schlussfolgerung existierte. Und selbst wenn es ihn tatsächlich geben sollte, wäre damit noch lange nicht sicher gewesen, ob er er halten konnte, was Friedrich und Alexandra sich von ihm versprachen.
»Du musst die Witwe anrufen. Und zwar jetzt sofort«, meinte Alexandra Dühring mit einer Bestimmtheit, die jeden Widerspruch ausschloss. Sie schob das Telefon über den Tisch.
Prieß nahm den Hörer ab und wählte Franziska Diebnitz’ Nummer.
Freitag, 27. Mai
Weit und flach war die Landschaft. Nach allen Seiten erstreckte sich die grüne Ebene bis zum Horizont, nur gelegentlich wurde die magere Eintönigkeit durch Inseln hochgewachsener, dicht beieinanderstehender Bäume unterbrochen. Hier und dort tauchten die Reetdächer eines Dorfes auf, manchmal ragte sogar ein Kirchturm zwischen ihnen empor, gedrungen und massig aus Ziegeln gemauert. Das Land südöstlich von Schwerin war karg, selbst an einem strahlend schönen Tag wie diesem schien eine allgegenwärtige Melancholie schwer über der Gegend zu ruhen.
Prieß stieg aus seinem Auto und sah sich um. Er musste hier richtig sein, denn auf dem zwischen zwei dicht bewachsenen Knicks tief eingegrabenen Feldweg konnte er unmöglich falsch abgebogen sein. Es war sicher nicht mehr weit bis zu seinem Ziel, und da er seinem bedenklich ächzenden Wagen die zahllosen tiefen Schlaglöcher nicht länger zumuten wollte, beschloss er, das letzte Stück zu Fuß zurückzulegen.
Nach höchstens zweihundert Metern endete der Weg stumpf an einem Gatter, hinter dem eine Wiese lag. Aus der Nähe konnte Prieß kräftige Hammerschläge vernehmen. Er ging durch das morsch knarrende Weidetor, folgte den Geräuschen und fand schließlich ihre Quelle.
Neben einer rostigen Badewanne, die als Viehtränke diente, hockte ein älterer Mann in einer mehrfach geflickten Latzhose und reparierte den altersschwachen Lattenzaun. Er war völlig auf seine Arbeit konzentriert und bemerkte Prieß erst, als der Schatten des Detektivs auf den Zaunpfahl fiel. Der Mann ließ den Hammer sinken, drehte sich herum und blickte mit einem Gesichtsausdruck auf, der irgendwo zwischen Misstrauen und einem maskenhaft leeren Lächeln lag.
»Guten Tag«, sagte Friedrich und deutete dabei an, den breitkrempigen Hut zu lüften.
»Tag«, brummte der Mann. Er stand auf und wischte sich die Hände an der Hose ab. »Kann ich etwas für Sie tun? Sie haben sich verirrt, stimmt’s?«
»Aber nein. Ich bin hier, um mit Ihnen zu reden, Herr Lämmle.«
Ruckartig wich der Mann einen halben Schritt zurück. »Sie müssen sich irren. Mein Name ist Liedtke, Albert Liedtke. Und ich …«
»Sie sind Karl Wilhelm Lämmle, geboren am 27. Dezember 1936 in Göppingen. Ihr Vater war der Reichspostbeamte Eduard Lämmle, Ihre Mutter hieß Auguste, geborene Seiffert. Geben Sie’s auf, ich weiß, wer Sie wirklich sind. Ihre Schwester hat es zugegeben und mir auch gesagt, dass ich Sie hier finden würde.«
»Meine Schwester!«, rief Lämmle aus. »Was haben Sie mit ihr gemacht? Wenn Sie ihr was angetan haben …« Seine Hand umkrampfte den Stiel des schweren Hammers so sehr, dass sich die Knöchel weiß färbten.
Prieß wusste, dass er jetzt nichts Falsches sagen durfte, wenn er nicht wollte, dass Lämmle ihn anfiel. »Ich habe ihr überhaupt nichts angetan«, sagte er mit einer beschwichtigenden Geste. »Sie hat nur eingesehen, dass ich die Wahrheit kenne und dass es nichts bringt, weiterhin zu leugnen, dass Sie sich hier versteckt halten.«
Für einige Augenblicke sah es so aus, als würde der enttarnte Karl Lämmle unschlüssig schwanken; ein Teil von ihm wollte wohl am liebsten mit dem Hammer auf den Fremden losgehen, der aus dem Nichts aufgetaucht und ihn seiner schützenden Maske beraubt hatte. Doch die Resignation siegte schließlich. Er ließ den Hammer fallen und ließ sich auf den Rand der Badewanne sacken, wo er den Kopf in den Händen vergrub.
»Sie haben mich gefunden«, murmelte er kraftlos. »Jetzt bin ich auch dran. Es ist aus.«
»Ich verstehe nicht ganz. Wie meinen Sie
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