Kaisertag (German Edition)
mich gefühlt habe! Ich kam mir vor wie eine lebendige Zielscheibe. Die Mörder hatten doch guten Grund, in mir eine Gefahr zu sehen. Schließlich hatte mich der Oberst in vieles eingeweiht, warum also nicht auch in diesem Fall? Wer immer ihn getötet hat, konnte nicht das Risiko eingehen, mich am Leben zu lassen. Also habe ich die Vernehmung noch über mich ergehen lassen, dann habe ich meine Koffer gepackt und bin heimlich aus Lübeck verschwunden. Dank meines Dienstes für den Herrn Oberst verfügte ich über eine Auswahl falscher Papiere, und so habe ich als Albert Liedtke hier Zuflucht gefunden. Und ich fühlte mich sicher … bis Sie kamen.«
Matt ließ Lämmle den Kopf hängen. »Nun wissen Sie alles. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Gehen Sie jetzt, lassen Sie mich in Frieden.«
»Noch nicht. Erst will ich wissen, wieso Sie das alles nicht schon der Polizei oder besser noch dem RMA erzählt haben, statt zu flüchten.«
»Haben Sie denn nichts begriffen?«, stöhnte Lämmle vorwurfsvoll. »Der Herr Oberst sagte ausdrücklich, dass er niemandem trauen kann und dass die Leute, die er verfolgt hat, überall sind. Und er meinte es auch so! Jeder, einfach jeder könnte zu den Feinden des Reiches zählen. Vermutlich befinden sie sich in Positionen, in denen sie von allem und jedem Kenntnis erhalten. Da erwarten Sie von mir, dass ich mein Wissen lauthals ausplaudere und mir am Ende selber den Strick um den Hals lege? Sie haben einfach keine Ahnung von unserem Spiel, Herr Privatdetektiv.«
»Immerhin habe ich Sie hier aufgespürt, also bin ich für ›Ihr Spiel‹ wohl nicht vollkommen untalentiert. Ich vermute, Sie haben diesen versiegelten Umschlag noch?«
»Kann schon sein. Aber Sie würden ihn bestimmt nicht von mir bekommen«, knurrte Lämmle eisig.
Prieß setzte eine Miene gespielter Gleichgültigkeit auf. »Schön. Dann werde ich mich jetzt auf den Weg zum nächsten Landjägerposten machen. Sie wollen es ja nicht anders.«
Er drehte sich um und ging. Friedrich wandte sich nicht um, bewegte sich zielstrebig auf das Weidetor zu und rechnete fest damit, dass Karl Lämmle jeden Augenblick nachgeben würde.
Plötzlich zischte etwas nur einen Fingerbreit an Prieß’ Kopf vorbei, so nah, dass er den Luftwirbel am Ohr fühlte. Einige Meter weiter schlug es dumpf im Gras auf. Entsetzt sah er, dass es sich um Lämmles Hammer handelte.
Er fuhr herum, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Lämmle einen der faustgroßen Feldsteine, auf denen die alte Badewanne ruhte, aufhob und nach ihm schleuderte. Prieß sah den grauen Brocken auf sich zufliegen; es gelang ihm gerade noch, Kopf und Oberkörper zur Seite zu reißen, sodass der Stein nur die Schulter streifte, was schon schmerzhaft genug war.
Prieß ignorierte das auflodernde Brennen und rannte auf Lämmle zu, der jetzt einen weiteren Stein für einen dritten Wurf ergreifen wollte. Doch dazu kam er nicht mehr. Noch während er sich bückte, stürzte sich Prieß auf ihn, warf ihn zu Boden und rammte ihm die Faust in die Magengrube. Am liebsten hätte er so lange auf ihn eingeschlagen, bis er krankenhausreif gewesen wäre. Es kostete ihn viel Kraft, sich im Zaum zu halten.
»Du Schwein!«, brüllte er und packte den hustenden und würgenden Lämmle am Hemdkragen. »Du hast versucht, mich umzubringen! Du gibst mir jetzt den verdammten Umschlag, oder ich mache dich fertig! Und deine Schwester wandert in den Knast! Hörst du? Los, antworte!«
Lämmle keuchte rau. »Nein … nein, bitte nicht. Sie … Sie kriegen, was Sie wollen. Ich gebe Ihnen den Umschlag. Wenn Sie dann nur wieder gehen. Gehen Sie, gehen Sie …«
Nachdem er dem Labyrinth der schmalen Feldwege, das die kleinen Dörfer und abgelegenen Höfe untereinander verband, entronnen war, fuhr Prieß auf der Reichsstraße II wieder nach Lübeck zurück. Da nun keine dicke, gelbliche Staubwolke mehr sein Auto umgab, konnte er die Seitenfenster ganz herunterkurbeln. Wirklich kühl war der Fahrtwind nicht, aber er brachte wenigstens Bewegung in die heiße, stehende Luft im Wageninneren.
Während Prieß die große Zeppelin-Basis bei Gadebusch passierte, wo die riesigen silbernen Luftkreuzer müde an den Ankermasten und am Boden vertäut im Sonnenschein lagen, zwang er sich, nicht länger darüber nachzudenken, wie er mit Karl Lämmle umgegangen war. Sein Interesse galt jetzt ohnehin mehr dem unbeschrifteten und versiegelten braunen Umschlag, der auf dem Beifahrersitz lag. Was mochte sich darin
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