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Kaktus zum Valentinstag

Kaktus zum Valentinstag

Titel: Kaktus zum Valentinstag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Schmidt
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Gesichter merken«, »… haben oft auffälligen Gang«, und vieles mehr. Die seelischen Erschütterungen sind so stark, dass um mich herum alle Ordnungen meines bisherigen Lebens zusammenbrechen. Dabei werden Dinge freigelegt, die alle zwischenmenschlichen Rätsel meines Daseins schlagartig lösen.
    Du bist ein hochfunktionaler Autist. Deine nonverbale Kommunikation ist gestört, heißt es. Und das bedeutet, dass diese Sache mit dem Eisbergmodell dann doch stimmt. Prosopagnosie, die Unfähigkeit, sich Gesichter zu merken, selbst das entdecke ich da gleich mit.
    Ich habe es immer gespürt, beim Rasten der Zeitdimension ging etwas schief. Ich landete in einer Welt von Wesen, Leute genannt, die sich aus zwei Arten zusammensetzten: solche, die mich als Alien annahmen oder zumindest tolerierten, und solche, die spürten, dass ich kein Visum für die Erde hatte.
    Ich spüre meinen ganzen Körper gänsehäuten und zittern. Ich friere erbärmlich, obwohl ich im warmen Büro sitze. Dann gefriere ich vollends, von innen nach außen, je mehr ich lese. Ich bekomme eine extreme Gänsehaut, wie immer dann, wenn ich spüre, die Lösung eines lange Zeit ungelösten Problems offenkundig gefunden zu haben.
    Klong – Klong – Klong – KLONNNNNG! Damit endet also tatsächlich das längste latente Topfschlagenspiel meines Lebens! Aus – vorbei – Ende Gelände!
    Ja, diesmal klong-klong-klongt es richtig: Das – bist – DU! Schließlich erstarre ich bis hin zur Versteinerung. Meine Augen starren steinstarr auf den Bildschirm. Vor mir flimmern abwechselnd immer wieder zwei Wörter:
    ASPERGER-SYNDROM – AUTISMUS
    Es dauert eine Weile, bis der Schock die darunterliegende Erlösung freilegt. Autismus – ein Sammelbegriff für alle meine Eigenschaften und Verhaltensweisen, wie es ihn kompakter gar nicht mehr geben kann.
    Die ewig gefühlte Mauer – die Menschen nennen sie Autismus. Sie ist also tatsächlich ein medizinisch klassifizierbares Problem. Autist – so nennen die Menschen das, was du bist.
    All die vielen ewig sich anhäufenden unbeantworteten Warum-Fragen, die das eigene Leben im emotionalen Kontext mit den Mitmenschen aufgeworfen hat, sind mit diesem einzigen Wort beantwortet. Die ewig gesuchten und nie gefundenen Erklärungen, jetzt kommen sie alle auf einmal. Ja, da werde ICH beschrieben, wie ich bisher durchs Leben ging. Mein Verhalten, das tatsächlich so anders ist – meine Art der strukturierten Wahrnehmung, die so anders ist – so individuell – diese Flatterbewegungen und Stereotypien, die Rituale, es hat alles zusammen einen einzigen Namen.
    So sammele ich also ahnungslos ein Puzzleteil auf, das sich als DAS ewig gesuchte und nie gefundene entscheidende Puzzleteil entpuppt, das die letzte Lückung im Bild des eigenen Lebens füllt. Das aus dem bislang unvollendeten und unverstandenen Werk meiner unbegriffenen Kindheit und Jugend nun ein Bild macht, das vollständigt. Es gesichtet mein Selbst.
    Kraaaa-bumbummmmmbumbumbummm. Es hallt und hallt in mir immer wieder wie ein Donner, der durch die Wolken grollt. Die Erleuchtung ist da, extrem grell und blendend. Dann regnet es aus meinem Gesicht in Strömen. Ich bin ein Autist – Autist – Autist – Autist – tist-tist-tist donnerhallt es wider – und wieder.
    Wie bei einem schweren Unwetter ergießen sich noch mal für zwei Stunden die Augen … Wie nur zwei Mal seit meiner Kindheit. Als ich auf die rauschenden Oberharzer Tannen starrte, die den Weg säumten, an dem ich mich von Gesa verabschiedete, und als ich zur Forschungsfahrt aufbrach, mit der die ozeanische Trennung von meinem Gnubbelchen begann. Dort lagen dann wohl die wichtigsten Abzweigungen meines Lebens, denen ich gefolgt bin.
    Damals sah ich die himmelhoch eisigen Berge am Horizont. Doch ein Gebirge folgte dem nächsten. Jetzt, nach 41 Jahren des Daseins auf der Erde, blicke ich erstmalig in das Land, das ich bisher nie sah. Sobin ich nun viele, viele Meilen und serpentinige Gebirgspässe später an der Grenze des Landes der unbegriffenen Sehnsucht angekommen.
    Einerseits fühle ich mich befreit, denn ich habe das Geheimnis meines Lebens gelüftet. Ich habe sozusagen die Losung, das Codewort, gefunden. Andererseits fühle ich mich um mein Leben als Mensch betrogen, denn in einer Welt zu leben, die durch nicht erkennbare Emotionen bestimmt wird, wird ewig schwierig bleiben.

Die finale Auto-Session
    Die Mau steht wie jeden Donnerstag dort, wo früher immer das »Peine, hier Peine!« war. »Peine,

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