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Kaktus zum Valentinstag

Kaktus zum Valentinstag

Titel: Kaktus zum Valentinstag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Schmidt
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Bereichen Sozialverhalten, Kommunikation und Wahrnehmung auswirkt.
    Zunächst ist sie ungläubig, aber bei genauerem Hinsehen erkenntnist auch sie: »Ja, wenn man das, was du bist, so nennt, ja, dann ist das wohl so!«
    Ich gehe vom Wohnzimmer ins Arbeitszimmer. Dort fahre ich in Gedanken versunken meine gesamte Lebensstraße noch einmal ab. Dann kommt mir die geniale Idee, doch einfach mal zur Oma rüberzugehen, um dort mein altes Zimmer unter dem neuen Licht der Erkenntnis zu betrachten, in dem mein Leben nun steht.
    So begebe ich mich mit der traumatischen Autismus-Entdeckung in mein altes Jugendzimmer. Dort ist die Zeit noch immer nahezu stehen geblieben. Fast alles liegt noch genauso an seinem Platz, wie ich es im Sommer 1985 verlassen hatte. Nur die grüne Kringeltapete wurde durch eine helldezente Raufasertapete abgelöst. An der Wand hängt noch immer das große Poster, das mich mit meinem roten Adidas-T-Shirt und meiner engen körperbetont abgetragenen Levis-Jeans zeigt. Die Locken hat es wohl immer wieder gerne betrachtet. Deswegen blieb es hängen. Ich war und blieb all die Jahre ihr ganz persönlicher Popstar, auf den sie so stolz war, ihr »Goldfasan«, wie sie mich oft liebevoll nannte. Sogar der letzte Schulstundenplan hängt noch am Schrank. Der Kalender gefror am 29. Juni 1985, jenem rostbraunroten Tag, an dem ich letztmalig das Hauptportal des Gymnasiums Groß Ilsede als Schüler durchschritt.
    In den Schränken finde ich alles, was ich soooooo gut gebrauchen kann, um meine ganze Lebenszeit noch einmal abspulen zu lassen – im Licht der Autismus-Erleuchtung. Es ist einfach alles noch da, was ich jemals so produziert oder zu Papier gebracht habe. Sämtliche Schulhefte, alle Bilder, die ich jemals gemalt habe, sauber mit dem Datum oder zumindest dem Jahr oder der Klasse auf der Rückseite versehen. Am Bettkasten prangt, wenn auch leicht verblichen, noch immer die Landkarte der »States of Japetus« in den Grenzen von 1984, jenem Land, das ich damals definierte. Als Abgesandter eines fernen Planeten, der hier auf der Erde so die Grenzen seiner Kolonie einer erdfernen Welt erklärte.
    Am Regal hängt auch noch immer die zugehörige rotblaue, mittelsaturnige Flagge meiner fernen Planetenheimat von damals. Mann, welchen Wert all diese Dinge auf einmal bekommen. Immer wieder waren sie bedroht, weggeworfen zu werden. Immer wieder hieß es von der Locken: »Wir müssen dein altes Zimmer endlich mal entrümpeln.«
    Ich bin soooooo dankbar, dass dies bislang niemals geschehen ist! So viele Erinnerungen, Gedanken, alte Tagebücher. Hunderte von Zetteln, vielleicht sogar mehr als tausend, ich habe sie nicht gezählt, auf denen ich meine Welt seit dem Ende der sechziger Jahre, also seit frühester Kindheit, verewigte. Der »Philos«! Alte Kassetten, Bänder, auf die ich gesprochen und gesungen hatte, alles noch da. Genau so, wie es in Lehrbüchern über Autismus steht. Ich bin wieder fassungslos. So klar sichtbar – und doch sah es 41 Jahre lang niemand.
    So finde ich auch alte Kassetten des braunen Brummelbären, die ich früher immer wiederholend meditativ gehört hatte. Ich höre nun diese Lieder, es ist wie eine Zeitreise, zurück und wieder vor, und zurück und wieder vor, wie in einer Zeitschaukel. Längst verschollene Erlebnisse werden wieder so lebendig, als wenn alles gerade erst passiert. Was für einen Fundus, den ich hier als 41-Jähriger finde, umauch längst verschüttete Erinnerungen noch einmal aktiv wachzurufen!
    Immer wieder erleide ich beim Betrachten des Materials Weinkrämpfe. Es regnet nicht nur im Gesicht. Es prasselt, denn alles passt. Einfach alles! Autismus hier – Autismus da – Autismus überall. Ich kann es einfach nicht fassen.
    Und dann muss ich an Frau Vogt denken, als sie mal sagte, die Liebe sei ein scheuer Vogel, der den Schlüssel meines Gefängnisses um seinen Hals trage. Ich hatte durch die Liebe den Weg aus dem autistischen Gefängnis gefunden.
    Schließlich fällt mir auch wieder das kleine türkisgrün diagonal gestreifte Poesiealbum in die Hände, das schon in der Schulzeit für später einmal farblich und lyrisch viel Hoffnung verkünden sollte.
    Beim Blättern halte ich inne bei einem Eintrag, den eine Mitschülerin bereits am 17.12.1978 schrieb. Sie brachte bereits damals den in ferner Zukunft liegenden, aber aufgrund meines Wesens wohl vorhersehbaren Moment der Erleuchtung auf den Punkt:
    »Man sieht oft etwas hundertmal,
    tausendmal,
    ehe man es zum allerersten

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