Kalle Blomquist
jetzt biegt er in den kleinen Pfad, der zwischen den Haselnußsträuchern entlangführt, und verschwindet Eva-Lotte aus den Augen. Du großer Nebukadnezar, er ist doch wohl nicht etwa auch drau-
ßen, um den Großmummrich zu suchen – er auch! Eva-Lotte grinst sich eins bei diesem Gedanken.
Dann aber blinzelt sie aufmerksam durch den Sonnendunst.
Von der anderen Seite kommt noch jemand, jemand, der gewiß nicht aus der Stadt sein kann, weil er an dem Weg auftaucht, der sich am Herrenhof vorbei in das flache Land hineinschlängelt.
Ach, das ist ja bestimmt der in den grünen Gabardinehosen!
Klar, heute ist ja Mittwoch. Heute wollte er doch »seine Reser-ven einlösen« oder was er damals sagte, nein, seine »Reverse«, so hießen die Dinger.
Eva-Lotte überlegt, wie es wohl sein mag, wenn man Reverse einlöst. O ja, Prozenterei und Ähnliches, das ist sicher sehr verwik-kelt. Mit was für Blödsinn sich große Menschen beschäftigen …
»Wir treffen uns an der gewohnten Stelle«, hatte er gesagt, der Gabardinejunge. Hier ist das also, hier draußen. Muß es aber durchaus neben dem Großmummrich sein, wie? Gibt es keine anderen Sträucher, wo die beiden sich treffen können, um zu prozenten? Nein, anscheinend nicht. Jetzt verschwinden die Gabardinehosen zwischen den Sträuchern, sie auch.
Eva-Lotte geht noch langsamer. Sie hat keine sonderliche Eile, und es ist wohl besser, wenn der Junge erst in Ruhe und Frieden seine Reverse einlösen kann, bevor sie den Großmummrich holt. Sie geht für ein Weilchen in den Herrenhof hinein.
Während sie wartet, schnüffelt sie ein wenig in den Winkeln herum. Bald wird sicher der Herrenhof wieder Kriegsschauplatz sein, und dann kann es nur gut sein, hier Bescheid zu wissen.
Sie sieht aus einem Fenster an der Rückseite. Oh, der ganze Himmel ist schwarz! Die Sonne ist verschwunden, und von ferne hört man ein gehässiges Grollen. Die ganze Prärie sieht so unheimlich und verlassen aus. Sie muß sich beeilen, sie muß den Großmummrich holen, sie muß nach Hause, bevor das Gewitter ausbricht.
Und sie läuft zur Tür hinaus, sie läuft, so schnell sie kann, sie läuft hinein in den kleinen Pfad zwischen den Haselsträuchern, sie hört die ganze Zeit das gehässige Gewitter grollen, sie läuft weiter, läuft – – nein, jetzt hält sie plötzlich verwirrt an.
Sie ist genau jemand in die Arme gelaufen, der von der entgegengesetzten Seite kam und es ebenso eilig hatte wie sie. Zuerst sieht sie nur die dunkelgrünen Gabardinehosen und das weiße Hemd. Dann sieht sie auf und in sein Gesicht. Mein Gott, welch ein Gesicht! So bleich, so voller Angst – kann ein großer Kerl wirklich solche Angst vor dem Gewitter haben? Eva-Lotte hat fast Mitleid mit ihm.
Aber es scheint, als wolle er gar nichts von ihr wissen. Er wirft ihr einen schnellen Blick zu, er sieht erschrocken und böse zugleich aus, und jetzt beeilt er sich, auf dem schmalen Pfad an ihr vorbeizukommen.
Eva-Lotte mag es nicht, daß man sie auf diese Art ansieht –als sei sie etwas Lästiges. Sie ist es gewohnt, Gesichter aufleuchten zu sehen, wenn sie bemerkt wird. Und sie wünscht nicht, daß der Kerl verschwindet, ohne daß sie ihm irgendwie klarge-macht hat, daß sie ein freundlicher Mensch ist und wie ein solcher behandelt sein will.
»Verzeihung, wie spät ist es?« fragt sie deshalb höflich, nur um etwas zu sagen und um zu zeigen – ja, daß sie doch eigentlich gut erzogene Menschen sind, wenn sie auch zwischen den Büschen zusammengestoßen sind.
Der Mann zuckt zusammen und bleibt unwillig stehen. Zuerst scheint es so, als wolle er ihre Frage nicht beantworten; aber dann sieht er doch auf seine Armbanduhr und murmelt undeutlich: »Viertel vor eins.« Dann läuft er weiter. Eva-Lotte sieht ihm nach. Sie bemerkt, daß eine Menge Papier aus seiner Hosentasche heraussieht, aus einer seiner dunkelgrünen Gabar-dinehosentaschen.
Nun ist der Mann verschwunden. Aber da liegt ein weißes, zerknittertes Papier auf dem Weg. Er hat es in der Eile verloren. Eva-Lotte hebt es auf und liest neugierig. »Revers« steht ganz zuoberst darauf. Aha, so sehen also die Reverse aus, olala!
War das nun schon etwas, um so ein Theater darum zu machen?
Dann kracht es, kracht entsetzlich, und Eva-Lotte springt vor Schreck in die Luft. Eigentlich hat sie vor Gewittern keine Angst. Aber jetzt, gerade jetzt, hier draußen, ganz allein auf der Prärie! Alles macht plötzlich so einen düsteren, unbehaglichen Eindruck. Zwischen den
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