Kalle Blomquist
schöpfen würde. Aber da kannten sie Kalle Blomquist nicht!
Im Erdgeschoß lag das Geschäft. »Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft« stand auf dem Schild.
»Bitte deinen Alten um Bonbons«, schlug Anders vor.
Kalle hatte selbst schon die gleiche gute Idee gehabt. Er steckte den Kopf durch die Tür. Hinter dem Ladentisch stand
»Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft« in höchsteigener Person – das war der Vater.
»Vater, ich nehm’ ein paar von den gestreiften!«
»Viktor Blomquists Lebensmittelgeschäft« warf einen liebe-vollen Blick auf seinen blondhaarigen Sprößling und grunzte gutmütig. Kalle steckte die Hand in die Bonbonbüchse. Das Grunzen bedeutete, daß man nehmen durfte. Dann zog er sich schnell zu Anders zurück, der auf dem Schaukelbrett unter dem Birnbaum saß und wartete.
Aber Anders hatte im Augenblick kein Interesse für die »Gestreiften«. Er starrte mit einem einfältigen Ausdruck in den Augen auf etwas in Bäckermeisters Garten. Das Etwas war Bäckermeisters Eva-Lotte. Sie saß auf ihrer Schaukel in einem rotkarier-ten Baumwollkleid. Sie schaukelte und aß eine Schnecke. Sie sang auch, denn sie war eine Dame, die viele Künste beherrschte.
»Es war einmal ein Mädchen, und die hieß Josefin, Josefin-fin-fin, Jose-jose-josefin.« Sie hatte eine klare und hübsche Stimme, die man sehr gut bis zu Anders und Kalle hin hörenkonnte. Kalle starrte sehnsüchtig auf Eva-Lotte, während er abwesend Anders einen Bonbon anbot. Anders nahm einen, ebenso abwesend, und starrte ebenso sehnsüchtig Eva-Lotte an.
Kalle seufzte. Er liebte Eva-Lotte wild. Das tat Anders auch.
Kalle hatte es sich in den Kopf gesetzt, Eva-Lotte als seine Braut heimzuführen, sobald es ihm gelungen war, genug Geld zu beschaffen, um einen Hausstand zu gründen. Das hatte Anders auch. Aber Kalle zweifelte nicht daran, daß sie ihn, Kalle, vorziehen würde! Ein Detektiv mit vielleicht so ungefähr vierzehn aufgeklärten Morden – das würde wohl etwas lauter knallen als ein Lokomotivführer! Lokomotivführer! Das war das, was Anders werden wollte.
Eva-Lotte schaukelte und sang und sah aus, als ob sie überhaupt nicht wüßte, daß sie beobachtet wurde.
»Eva-Lotte!« rief Kalle.
»Das einz’ge, was sie hatte, das war ’ne Nähmaschin, Nähmaschin-schin-schin, Nähma-Nähma-Nähmaschin«, fuhr Eva-Lotte unbekümmert fort.
»Eva-Lotte!« schrien Kalle und Anders gleichzeitig.
»Ach, seid ihr es?« sagte Eva-Lotte sehr erstaunt. Sie stieg von der Schaukel und ging gnädig zum Zaun, der ihren Garten von Kalles trennte. Es fehlte ein Brett – es hatte schon immer gefehlt. Eine ausgezeichnete Einrichtung, die es möglich machte, sich unbehindert durch die Öffnung hindurch zu unterhalten und auch in Bäckermeisters Garten hineinzuschlüpfen, ohne sich mit Umwegen bemühen zu müssen.
Es war Anders’ heimlicher Kummer, daß Kalle so nahe bei Eva-Lotte wohnte. Das war auf irgendeine Weise ungerecht. Er selbst wohnte weit weg in einer Straße, wo er und seine Eltern und kleinen Geschwister zusammengedrängt in einem Zimmer mit Küche über Vaters Schuhmacherwerkstatt wohnten.
»Eva-Lotte, willst du ein bißchen mit uns in die Stadt gehen?« fragte Kalle.
Eva-Lotte schluckte mit Genuß den letzten Bissen ihrer Schnecke hinunter.
»Kann ich machen«, sagte sie. Sie fegte eine Krume von ihrem Kleid weg. Und dann gingen sie los.
Es war Samstag. Friedrich mit dem Fuß war bereits betrunken und stand wie gewöhnlich vor der Gerberei mit einem Kreis von Zuhörern um sich herum. Kalle und Anders und Eva-Lotte stellten sich dazu, um Friedrich von den Heldentaten berichten zu hören, die er ausgeführt hatte, als er als Bahnarbeiter in Nordschweden gewesen war.
Während Kalle zuhörte, irrten seine Augen umher. Er hatte nicht einen Augenblick lang seine Pflicht vergessen. Nichts Verdächtiges? Nein, mußte er zugeben, nichts Verdächtiges! Doch wie oft hatte man gelesen, daß vieles, was unschuldig aussah, genau das Gegenteil davon war. Auf alle Fälle muß man auf der Hut sein! Da kam z. B. ein Mann mit einem Sack auf dem Rük-ken die Straße herauf gestiefelt.
»Nimm mal an«, sagte Kalle und puffte Anders in die Seite,
»nimm mal an, daß er den ganzen Sack voll mit gestohlenem Silber hat!«
»Nimm mal an, daß er es
nicht
hat«, sagte Anders ungeduldig, denn er wollte Friedrich mit dem Fuß zuhören. »Nimm mal an, daß du eines schönen Tages überschnappst mit all deinen Detektivideen.«
Eva-Lotte lachte.
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