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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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unschuldig sie aussah - so klein und verwundet in ihrem zerrissenen, beschmutzten weißen Hemd, wie ein Kind, mit dem kurz geschorenen Haar und den großen Augen.
    Der junge Dominikaner wollte sich Vater Charles zuwenden, um die Reaktion des älteren Mannes zu verfolgen, doch plötzlich erfasste ihn ein Schwindel, und er spürte, dass er kurz vor einer Ohnmacht stand ...
    Und er war nicht länger er selbst, sondern ein anderer Mann, ein Fremder, der auf dem Rücken lag und in den sonnenhellen Himmel schaute, der so blau war, so gleichgültig und kalt, und dieser seltsame Ort aus Steinen und Schreien - mit einem Mal unglaublich ruhig und still. In der blauen Weite über ihm waberten dunkle Wirbel. Aasvögel?, fragte er sich, oder das Herannahen des Todes? Er war zu schwach, zu ruhig, zu erschöpft, um sich diese Frage beantworten zu können.
    Dann trat an die Stelle des Himmels und der Todesvögel ein menschliches Antlitz, weiblich, herzförmig, mit glänzenden Augen, einer winzigen Nase und Lippen, die wahrhaftig die Form einer sich öffnenden Blüte hatten; indigoblaue Augen und lange Wimpern, olivfarbene Haut, von der Sonne gebräunt. Lächelnd streckte die Frau eine Hand nach ihm aus. Er versuchte, das Lächeln zu erwidern, doch es gelang ihm nicht - überall war Blut - Blut auf Metall, Blut auf der Erde, Blut auf seiner Zunge, doch das alles spielte keine Rolle, denn er hatte Sie endlich gesehen ... Und trotz seiner Schwäche erfüllten ihn eine überwältigende Hingabe und ein unerträgliches körperliches Verlangen. Dennoch empfand er mit der Objektivität eines Sterbenden keine Scham. Diese L eidenschaft schien geheiligt, untrennbar verbunden mit der Macht, die von ihr zu ihm strömte.
    Ihre Stimme, leise und wunderschön - eine Stimme, die er schon seit unendlich langer Zeit kannte, eine Stimme, die er immer schon gekannt, an die er sich nur nicht mehr erinnert hatte: Der Gott, den du suchst, ist hier, siehst du es nicht? Dein Leben ist hier ...
    Die Worte und die Wärme erzeugten ein Gefühl der Freiheit in ihm, eine so tiefe Freude und Erleichterung, dass er rasselnd ausatmete und in Frieden starb.
    Ruckartig kehrte Michel in die Gegenwart zurück. Ihm war, als hätte er geträumt, ohne zu schlafen, denn er hatte gerade Vater Charles die Feder gereicht, als wäre nichts gewesen - oder vielmehr, als hätte er nicht geträumt, sondern wäre in die letzte Erinnerung eines Sterbenden versetzt worden, eines Fremden, den er nicht kannte. Es war eine von Gott gegebene Vision - oder vom Teufel, er wusste es nicht. Doch ihre Bedeutung entzog sich ihm vollkommen. Zugleich waren ihm die Lustgefühle peinlich, denn die hatte ihm gewiss seine sündige Natur eingegeben. Michel betastete unvermittelt das an seinem Herzen verborgene Kruzifix. Gleichzeitig warf ihm Vater Charles einen bohrenden Blick zu, bevor er der noch immer liegenden Frau Federkiel und Pergament darbot. Die Tränen der Äbtissin versiegten sofort. Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
    Überraschenderweise bestand Charles nicht weiter auf seinem Begehr. Er ließ die Arme sinken und reichte die zurückgewiesenen Gegenstände wieder seinem Schreiber. Michel steckte sie in sein Bündel und zog eine Wachstafel und einen Griffel heraus, die immer dann zum Einsatz kamen, wenn zusätzliche Namen, Anklagen und Änderungen an Geständnissen aufzuzeichnen waren. Mit dem Griffel hielt der Schreiber auf dem Wachs schließlich Folgendes fest: Anno 1357, am 22. Tage des Oktober, wurde eine gewisse Mutter Marie Francoise vom Franziskanerkloster in Carcassonne in aller Form dem Dominikaner Vater Charles Donjon aus Avignon vorgeführt und weigerte sich, die Verbrechen zu gestehen, derer man sie bezichtigte.
    Dann wartete er mit gezücktem Griffel darauf, dass Charles sie anschließend fragte, ob sie andere Verbrechen gestehen oder eine Erklärung abgeben wolle. Michel war erstaunt, als Vater Charles stattdessen zu der Nonne sagte: »Offenbar hegt Ihr nicht den Wunsch, zu dieser Untersuchung beizutragen.« Abrupt stand er auf, wandte sich ab und wollte gehen. Michel sammelte bestürzt und in aller Eile seine Schreibutensilien ein und tat es ihm nach.
    »Aber ich will gestehen!«, rief die Äbtissin mit plötzlich kräftiger Stimme. »Nur nicht das, was in Eurem Dokument steht.«
    Charles drehte sich so schwungvoll um, dass der Saum seiner dunklen Kutte über den Boden fegte, und sah sie an. Michel schien es, als klänge in seinen Worten eine leichte Spur von Enttäuschung

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