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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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mit.
    »Ihr wollt ...?«
    »Gestehen«, vollendete sie, doch ihre Stimme, ihre Augen und ihr Gesicht zeigten weder Reue noch Bedauern. »In meinen eigenen Worten. Und nur ihm allein.« Sie deutete auf Michel.
    Die dichten Augenbrauen des Priesters bildeten ein Unheil verkündendes V, seine Lippen wurden schmal und bleich, und ein paar Sekunden lang betrachtete er die vor ihm liegende Äbtissin mit wütendem Blick. Schließlich hob er an: »Soll ich Euch sagen, was Ihr bereits wisst? Dass mein Gehilfe noch kein Priester ist und demnach nicht berechtigt, Euch ein Geständnis abzunehmen. Und dass ich ihm nie gestatten werde, sich allein bei Euch aufzuhalten.«
    »Soll ich Euch sagen, was Ihr bereits wisst?«, entgegnete sie vollkommen furchtlos und nicht minder respektlos. »Dass Ihr den Befehl habt, mich für eine relapsa zu befinden und mich zum Tode zu verurteilen, gleichgültig, was ich sage.«
    Sie hielt inne und deutete mit einem Blick auf Michel. »»Er hat keine Angst davor, die Wahrheit zu hören und weiterzugeben.«
    Mit aschfahlem Gesicht drehte sich Charles schwer-fällig zu Michel um. »Ihr ist nicht zu helfen. Rufe den Kerkermeister, Bruder.«
    »Aber Vater ...«
    »Tu es.«
    Michel musste seinen über Jahre hinweg geschulten klösterlichen Gehorsam und all seine Treue aufbringen, um Vater Charles Folge zu leisten. Er schaute aus dem kleinen, vergitterten Fenster und rief lauter als notwendig, denn der Kerkermeister hatte draußen gewartet, und der Übereifer, mit dem er die Tür öffnete, konnte nicht über seine Verlegenheit hinwegtäuschen, dass man ihn beim Lauschen ertappt hatte.
    Im Verlauf ihrer Arbeit - drei weitere unergiebige Befragungen - schien Vater Charles immer mehr in sich gekehrt, und als der Tag sich dem Ende zuneigte und die Inquisitoren aus dem Gefängnis in die Helligkeit und die duftende Sommerluft traten, war seine Stirn gefurcht und sein Schritt langsam. Statt über die Ereignisse des Tages zu reden, wie er es sonst immer tat, schwieg er. Auch Michel verharrte in Schweigen, denn seine Enttäuschung über Vater Charles war groß. Das Gesetz verlangte, dass der Äbtissin mehrere Möglichkeiten eingeräumt wurden, zu gestehen. Doch Charles hatte Drohungen ausgestoßen, Worte, die er nie zuvor benutzt hatte, Worte, die wie eine Totenglocke für die Angeklagte klangen: Ihr ist nicht zu helfen.
    Das ist zu viel für mich, sagte sich Michel, denn die Welt und alles, woran er glaubte, war auf den Kopf gestellt worden. Sein Herr und Meister war ein gewissenhafter, ehrlicher Mann. Nie würde Charles es versäumen, einem Gefangenen eine gerechte Anhörung zuteil werden zu lassen. Dennoch hatte er die Äbtissin heute gleichsam zum Tode verurteilt, obwohl sie kaum ein Wort gesprochen hatte. Und die Kirche wurde gewiss von guten, frommen Männern geführt, doch heute hatte Rigaud einen Priester erpresst, das Inquisitionsrecht zu missachten. Und er, Michel, litt an seltsamen Halluzinationen. Vater Charles seufzte und schaute zurück auf die Straße und den nahenden Strom der Passanten, der jetzt zur Abendbrotzeit allmählich schwächer wurde. Im Licht des späten Nachmittags wirkte er bleich, beinahe ausgezehrt.
    »Bruder Michel«, begann er, »ich glaube, es wäre am besten, wenn mich morgen früh ein anderer Schreiber begleitete.«
    So war es also: Charles würde am nächsten Morgen zur Äbtissin zurückkehren und die Exekution empfehlen. Und er wollte nicht, dass sein Pflegebefohlener Zeuge seiner Schande wurde.
    Noch immer wollte Michel nicht glauben, dass es sich tatsächlich so verhielt. »Aber warum, Vater? Aus irgendeinem Grund vertraut mir die Äbtissin, und wenn meine Anwesenheit dabei behilflich sein kann, ein Geständnis zu erlangen ...«
    »Sie will dich allein, Michel, doch ihre Gründe haben mit Vertrauen nichts zu tun. Ich habe den merkwürdigen Ausdruck auf deinem Gesicht bemerkt, als sie dich heute Morgen angeschaut hat. Du warst nicht du selbst. Darf ich fragen, was dir da durch den Kopf ging?«
    Michel zögerte. Einerseits spürte er, dass die seltsame Vision geheim bleiben sollte, unangetastet ... doch er wusste auch, dass Vater Charles ihn nur vor Schaden bewahren wollte.
    »Ich ... es war wie ein Tagtraum. Ich habe mit den Augen eines Sterbenden zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort gesehen ... Und sie - die Äbtissin - war da.«
    Vater Charles schüttelte den Kopf und seufzte abermals, diesmal noch sorgenvoller. »Sie hat dich verhext.«
    »Aber der Bischof hat gesagt,

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