Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
sie nicht reagierte, setzte er eine betrübte Miene auf. »Doch zunächst, Mutter, muss ich Euch um Vergebung bitten für das Unrecht, das Euch zugefügt wurde. Jene Männer hatten keine Erlaubnis, Euch anzurühren, ehe Euch nicht die Möglichkeit gegeben wurde, zu gestehen. Der Vorfall wird an höherer Stelle gemeldet werden.«
Langsam wandte die Frau ihnen das Gesicht zu. Michel unterdrückte einen entsetzten Aufschrei. Er hatte die kleine, verschleierte Frau erwartet, die er noch kürzlich auf dem Marktplatz von Avignon gesehen hatte, als sie ihre Hand über das Auge eines vor ihr knienden Gefangenen hielt. Eine hübsche Frau mit olivfarbener Haut, großen Augen und einer Stupsnase.
Jetzt betrachtete die Äbtissin sie mit ihrem unverletzten Auge. Das andere war hinter der Schwellung des gebrochenen Wangenknochens
kaum zu erkennen. Das Lid war geschlossen und mit verkrustetem Blut aus der Augenbraue verklebt, die in der Mitte auf die Länge eines Daumennagels gespalten war. Die klaffende Wunde legte rohes Fleisch frei, und das Blut war über die Schläfe, die Wange und an der grün und blau geschwollenen Nase entlanggelaufen, und die aufgerissene Oberlippe blutete. Bis auf die Wunden war ihr Körper unscheinbar. Die Frau war von kleinem Wuchs und vielleicht gerade zwanzig Jahre alt -sehr jung dafür, dass sie bereits die mächtige Position einer Äbtissin und eine derart widersprüchliche Reputation erlangt hatte.
Dennoch lag eine große Schönheit in ihrer Haltung, und sie strahlte trotz ihres so verhängnisvollen Schicksals eine ruhige Würde aus. Von den unzähligen Gefangenen, die Michel in den Jahren seines Dienstes an der Seite von Vater Charles gesehen hatte, war sie die Einzige, die sich nicht fürchtete.
Erneut trug ihn die Erinnerung nach Avignon, hin zu dem Augenblick, als sie von dem Geheilten aufgeblickt und ihn, Michel, direkt angeschaut hatte. Er war überzeugt gewesen, dass sie ihn durch und durch kannte, jeden Gedanken, jeden Vorsatz in seinem Herzen.
Sogleich überkam ihn ein Verlangen, das stärker war als alles, was er bisher empfunden hatte. Es erfüllte nicht nur seine Lenden, sondern seinen ganzen Körper, bis selbst seine Fingerspitzen vor Lust schmerzten. Beschämt und erschreckt, dass er körperliches Verlangen für eine solche Heilige empfand, hatte er wieder leise zu beten begonnen:
Weiche, Satan. Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade...
Vater Charles' Stimme, in die sich ein Anflug von Schmach geschlichen hatte, holte Michel wieder in die Gegenwart zurück.
»Die Burschen werden für ihr Vergehen zahlen, ehrwürdige Mutter. In der Zwischenzeit« - der Priester wurde geschäftsmäßig - »wollen wir keine Zeit verlieren. Eine vorläufige Liste von Anklagepunkten gegen Euch ist zusammengestellt worden.« Ohne seinen Gehilfen anzuschauen, streckte er ihm eine offene Hand entgegen. Michel fasste sich, öffnete sein Bündel und entrollte eine dicke Rolle verschiedener Pergamente, suchte das entsprechende Papier heraus und reichte es Charles. Obwohl der ältere Mann sich schon längst angewöhnt hatte, sich beim Lesen auf Michel zu verlassen, kannte er die Worte auswendig: »Das Abschlachten unschuldiger Kinder, Beischlaf mit dem Teufel, Zauberei, maleficium gegen Seine Heiligkeit, Papst Innozenz ...«
Bis auf den letzten Anklagepunkt und den Namen der Angeklagten waren alle Pergamente in Michels Bündel im selben Wortlaut abgefasst.
Charles verstummte. »Ehrwürdige Mutter, ich frage Euch jetzt: Wollt Ihr die Anklagepunkte gestehen?« Plötzlich traten Tränen in das unversehrte Auge der Äbtissin; eine löste sich aus dem Augenwinkel und rann an der Nase entlang.
Vater Charles zeigte der Angeklagten feierlich das Pergament, während Michel zu Feder und Tintenhorn griff. »Das Dokument ist vorbereitet, Ihr müsst es nur unterzeichnen«, sagte der Priester. »Es enthält die Liste der Anklagepunkte, die ich soeben verlesen habe.« Als er Charles die Feder reichte, bemerkte Michel, dass die Äbtissin nicht auf das Pergament, sondern direkt zu ihm hinschaute, dann zu Vater Charles, und voller Erstaunen, wie bei einer unerklärlichen Offenbarung, wusste er, dass sie nicht über den Schmerz weinte, den ihr die Folterknechte zugefügt hatten, auch nicht über die demütigende Haft oder die Furcht vor einem qualvollen Tod. Sie weinte aus Mitleid für sie, ihre Inquisitoren. Wieder schaute sie auf Michel. Ihre Wangen glänzten vor blutiger Tränen, sie wirkte äußerst gefasst. Wie
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