Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
dass der Heilige Vater persönlich das Kruzifix gesegnet hat, damit es uns schü...«
»Das weiß ich, Bruder. Dennoch bleibt es dabei: Sie hat dich verhext. Dein >Tagtraum< war schwerlich von Gott gegeben.« Er schwieg eine Weile. »Mein Sohn, warum habe ich dich wohl so rasch von ihr entfernt?« Sein Tonfall wurde wieder ironisch. »Oder meinst du, ich wäre nur Rigauds Befehlen gefolgt?«
Seine letzten Worte gaben Michel zu denken, daher erwiderte er unterwürfig: »Wenn das wahr ist, dann will ich um Vergebung bitten. Ich werde jede Buße auf mich nehmen, die Ihr für notwendig erachtet, Vater, doch ich will helfen und an Eurer Seite bleiben. Ich weiß, dass Gott sie retten kann, und ich weiß auch, dass ich dabei von Nutzen sein kann. Ich weiß es.«
»Michel. Mein Sohn. Verstehst du denn nicht? Sie ist Gift für dich.«
»Wie könnt Ihr das wissen, Vater? Ist es denn nicht wichtig, die Wahrheit zu erfahren und eine Seele zu retten, die vielleicht unschuldig ist? Eine Seele, die sogar eine heilige sein kann?«
Charles wandte sich von ihm ab, als hätte Michel ihn geschlagen. Der junge Dominikaner bereute den Schmerz, den er seinem Mentor mit dieser Frage zugefügt hatte, aber er gab nicht auf. »Wenn sie tatsächlich eine Hexe ist, warum sollte sie ausgerechnet mich verhexen wollen, Vater? Warum nicht Euch? Ich bin nur ein Schreiber und nicht viel wert für sie. Wie Ihr schon sagtet, entscheide nicht ich über ihr Schicksal. Ich kann nur für sie beten.«
Die braunen Augen des Priesters füllten sich mit Tränen. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder; er war sichtlich bewegt. Schließlich stieß er heiser hervor: »Ich würde mit Freuden mein Leben geben, um dich vor Schaden zu bewahren. Willst du das einem alten Mann nicht nachsehen? Willst du mir nicht vertrauen? Ich möchte weder erleben, dass dich eine Krankheit befällt, noch dass deine Rechtschaffenheit beeinträchtigt wird.«
»Aber keine Krankheit ...« Michel brach ab, denn er begriff plötzlich, was Charles da sagte: dass er seinen Pflegebefohlenen vor vielen Dingen zu schützen wünschte - nicht nur vor möglicher Verhexung, sondern vor den plagenden Schuldgefühlen, falls die Äbtissin mit seiner Hilfe für schuldig befunden würde.
Demütig neigte Michel das Haupt. »Bedauerlicherweise muss ich Euch widersprechen, Vater.«
»Dir bleibt keine andere Wahl, Bruder, als dem Befehl deines Herrn und Meisters zu gehorchen. Ich habe meine Laufbahn als Schreiber begonnen; und ich werde jenes Amt diesmal selbst ausüben.«
Den Abend verbrachte Michel allein im Gebet, doch es schmerzte ihn noch immer, dass man ihn aus der Zelle der Äbtissin verbannt hatte. Er wollte Charles vertrauen, dass er der Beklagten eine unparteiische Anhörung zugestehen wollte, selbst wenn das bedeutete, den Zorn des Bischofs zu erwecken, doch die Reaktion des Priesters auf Mutter Marie Francoise war verblüffend aufrichtig gewesen. Also überlegte Michel, welchen Weg er einschlagen sollte, für den Fall, dass man die Äbtissin hinrichten würde - verdammt sei der Bischof; denn selbst wenn sie eine Hexe wäre und die übelste Magie angewendet hätte, gestattete das Kirchenrecht ihr dennoch, wie jedem Angeklagten, das Recht zu, ihre Sünden zu gestehen und sich Christus zuzuwenden.
Zumindest sollte er, Michel, die Tat öffentlich anprangern, vielleicht sogar einen Brief an den Papst schreiben. Es mochte sein, dass Rigaud seinen Einfluss geltend machte, um ihn aus dem Orden der Dominikaner auszustoßen - ein Gedanke, der ihm wenig Sorge bereitete, denn Chretien war wesentlich mächtiger und würde ihn sicher vor dem Zorn des Bischofs bewahren. Wenn er es sich recht überlegte, kam Michel sogar zu dem Ergebnis, dass ein solcher Ausschluss auch eine große Erleichterung darstellen könnte. Statt Gott zu dienen, indem er zusah, wie Schuldige zum Tode verurteilt wurden, könnte er sich vielleicht den Franziskanern anschließen und durch das Land ziehen, predigen und Seelen retten, noch bevor sie den Ärger der Inquisitoren auf sich zogen. Vorläufig jedoch musste er den Befehlen gehorsam Folge leisten; und die Vorstellung, dass Charles' Härte nur vorgetäuscht war, dass er die Äbtissin vielleicht für unschuldig befand und sich Rigauds Kritik persönlich stellen würde, nagte an Michel. Träte dieser Fall tatsächlich ein, wie könnte er dann seinem Beschützer helfen? Es war wie ein unlösbares Rätsel. Jedes denkbare Resultat bedeutete, dass
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