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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Mutter?«
    Sie schüttelte den Kopf, und es fiel ihr sichtlich schwer, sich wieder zu fassen. »Ich kann darüber nicht sprechen, selbst jetzt nicht. Ich bin müde und brauche Ruhe.« Bei diesen Worten lehnte sich Sybille vorsichtig auf der Holzpritsche zurück.
    »Ehrwürdige Mutter«, sagte Michel ernstlich beunruhigt, »Ihr müsst die Kraft haben, fortzufahren. Bischof Rigaud wird ein ganz anderes Zeugnis von Euch fordern, wenn Ihr für unschuldig gelten wollt. Richtet Euer Herz auf Jesus Christus, gesteht Eure Verbrechen, und vielleicht sind wir dann in der Lage, Euch aus diesem Gefängnis zu befreien.«
    »Sie wollen mein Blut sehen«, flüsterte Sybille mit vor Erschöpfung heiserer Stimme. Sie war so schwach, dass sie zu keiner Gemütsregung mehr im Stande war, weder zur Buße noch zu Angst. »Und das werden sie, was ich auch sage.«
    Michel schnaubte empört. »Woher wollt Ihr das wissen, Ehrwürdige Mutter?«
    »Oh, ich weiß mehr, armer Bruder. Genau wie Ihr viel mehr wisst, als Euer geistiges Gefängnis es zulässt.« Sie schaute ihn unendlich mitfühlend an. »Eure Träume von Luc sind lebhaft, nicht wahr?«
    Die unerwartete Frage versetzte Michel einen Stich. Tief in seinem Herzen glaubte er ihrer Geschichte und auch, dass seine Träume in der Tat die Erinnerungen des verstorbenen Luc waren. Doch sein Verstand hielt fest an Jesus Christus und der Kirche und sagte ihm, dass alles, was sie äußerte, die reinste Blasphemie war und er kurz davor stand, seine unsterbliche Seele zu verlieren. Michel schaute zu Boden und schüttelte den Kopf, innerlich zerrissen. Er hatte das Gefühl, in zwei Wesen gespalten zu sein, die einen tödlichen Kampf miteinander ausfochten.
    »Ich ... Die Träume von Luc beunruhigen mich. Sie beschäftigen meine Gedanken, auch wenn ich wach bin«, sagte er schließlich und verstummte sogleich wieder. Er hatte nicht die Absicht gehabt, das zuzugeben.
    »Ihr wisst, warum Ihr so empfindsam darauf reagiert, Bruder. «
    Es war eine Feststellung, und doch schaute er Sybille fragend an.
    »Ihr seid einer von uns«, sagte sie. »Einer von unserem Geschlecht.«
    Mit offenem Mund starrte Michel sie durchdringend an, ehe er schließlich seine Stimme wieder fand. Eine Woge des Schmerzes überrollte ihn, als hätten ihre Worte seine Seele durchbohrt. »Ich will davon nichts hören!«
    Doch sie sprach rasch weiter, noch ehe er protestieren konnte. »Deshalb habt Ihr diese Träume, deshalb fühlt Ihr Euch zu mir hingezogen, deshalb glaubt ein Teil von Euch an meine Geschichte. Dies alles ist weder Zauberei noch Zufall, sondern geschieht, weil Ihr seid, wer Ihr seid. Ihr seid verhext, Bruder, doch nicht durch mich. In diesem Kampf hier geht es nicht um meine Seele ... sondern um die Eure.«
    Sie hatte noch nicht ausgesprochen, da hatte Michel, von unerklärlicher Wut und Angst gepackt, schon mit steifen Bewegungen Federkiel, Tintenhorn und Pergament in seinen Beutel gestopft.
    »Ich ... Wenn Ihr mit Eurer Aussage nicht fortfahren wollt, muss ich gehen und beten. Vater Charles - und Bischof Rigaud - hatten Recht. Ihr seid eine sehr gefährliche Frau.«
    Als er sich umwandte, um nach dem Kerkermeister zu rufen, streifte Michels Blick kurz ihr Gesicht. In den dunklen Augen und auf den leicht geöffneten, geschwollenen Lippen lag eine Mischung aus so inniger Liebe und Sorge, dass es ihn anrührte. Doch er fasste sich rasch und ging.
    Der Zustand von Vater Charles hatte sich nicht gebessert, und Bruder Andre wusste offensichtlich von keiner Veränderung zu berichten, denn er stand schweigend von seinem Hocker neben dem Bett auf, nickte Michel zu und eilte ins Refektorium.
    Michel jedoch verspürte keinen Appetit - weder auf Essen noch auf Gebete. Stattdessen setzte er sich auf den Holzschemel, den Andre gerade verlassen hatte, und betrachtete seinen Mentor. Vater Charles' Gesicht hatte einen gelblichen Ton angenommen, die Wangen und die fest geschlossenen Augen schienen noch weiter eingefallen. Die Lippen spannten sich über den Zähnen und waren so spröde, dass sie trotz des feuchten Tuchs, das Bruder Andre zum Betupfen zurückgelassen hatte, fast bluteten. Es hatte den Anschein, als könnte Vater Charles jederzeit sterben.
    »Vergebt mir, Vater, denn ich habe gesündigt«, flüsterte Michel dem bewusstlosen Priester zu. »Ich habe mich in die Hexe Sybille verliebt. Ich habe ihren Geschichten über Magie und Ketzerei nur Gutes entnehmen können. Ich habe sie von Gott und der Göttin reden hören und

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