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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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mich davon hinreißen lassen. Ich werde in die Hölle geführt wie ein unwissendes Tier zur Schlachtbank. Das ist mir ebenso bewusst wie meine Verantwortung für die Rettung ihrer Seele. Doch ich habe versagt, und sie hat gesiegt.«
    Im flackernden Licht des Kaminfeuers lehnte sich Michel zurück, legte den Kopf an die Wand und starrte zu den Schatten hinauf, die über die Decke huschten.
    Es waren nur Trugbilder, mehr nicht. Schwarze Lügen. War die Geschichte der Äbtissin mehr als das, sagte sie am Ende die Wahrheit? Oder waren seine Gefühle für sie nur hervorgerufen von einem mächtigen Zauber?
    Michel kniff die Augen zu und presste die Hände auf die Ohren, als wollte er alle Gedanken, alle Erinnerungen und Erscheinungen auslöschen. Er drückte immer fester, seine zitternden Finger versuchten den Hinterkopf zu umspannen, und in dem Bemühen, die Stimmen in seinem Innern zu übertönen, flüsterte er: » Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, du bist gebenedeit...«
    Immer aufs Neue wiederholte er das Gebet, bis Stille und ein noch tieferer Friede über ihn kamen, das Zittern aufhörte und die Hände den Rosenkranz an seinem Gürtel suchten. Er begann, eine glatte Perle nach der anderen durch die Finger gleiten zu lassen. »Gegrüßet seist du, Maria ...«
    Obwohl er die Augen geschlossen hielt, hatte er eine Vision: Die Muttergottes stand vor ihm, in blendendes Weiß gekleidet mit himmelblauem Schleier, und auf dem Haupt ruhte eine glänzende goldene Krone. Sie breitete die Arme aus und segnete ihn, war ihm so nah, dass er ihr Gesicht in allen Einzelheiten vor sich sah - das Gesicht einer jungen Frau, einer Bäuerin. Hübsch, mit Lachgrübchen. Doch es war, als blickte er in die Sonne, so stark war das Leuchten, das von ihr ausging. Und in ihrer Nähe zu sein, war, als würde er durchbohrt, verschlungen und geläutert durch Ihr Licht.
    Und ihrer Heiligkeit gewiss, beugte Michel, den Rosenkranz noch in Händen, die Knie.
TOULOUSE September 1356
XVI
    Sogleich bedrängten ihn Bilder aus dem Leben eines anderen Mannes: Bilder vom Vater, der, wieder geheilt, sein einziges Kind nicht aufgeben wollte und sein Versprechen brach, den Sohn im Gebrauch seiner Kräfte unterweisen zu lassen.
    Vom sechsjährigen Luc, der noch bei seinem Papa lebte und auf einen Farbenreigen aus Wandteppichen und bunten Wollsträngen zurannte, wobei er mit den Füßen Kräuter und Blumen zertrat, die den Boden im Zimmer seiner Mutter bedeckten: Flohkraut, Minze, Rosmarin, Lavendel und Rosenblätter vermischten sich zu einem einzigen berauschenden Duft.
    Er hatte sich dem Griff seines Vaters entwunden, war am Wächter vorbei in die wartenden Arme seiner Mutter gelaufen...
    Und erschrak, als sie ihn mit einer raschen Bewegung packte und versuchte, ihm den Hals umzudrehen, als wollte sie einem Vogel das zarte Genick brechen. So weich waren ihre Hände, so kühl, so erschreckend kräftig.
    Er wollte schreien, bekam aber keine Luft. Vor Überraschung war er nicht imstande, sich zu wehren. Stattdessen starrte er seine Mutter an. Ihre Schönheit war dahin, ihr Gesicht zur Furcht erregenden Fratze eines Ungeheuers verzerrt, doch hinter der Wildheit in ihren Augen hatte Luc auch Liebe, Qual und Reue gesehen.
    Sofort stürzte der Vater sich auf sie, doch ihr Zustand verlieh ihr ungewöhnliche Kräfte, sodass Papa und der Wächter sie nur zu zweit niederringen und am Boden festhalten konnten, während sie aufheulte, wild um sich schlug und sich vergeblich nach ihrem Kind streckte. Innerhalb von zwei Tagen waren Lucs Sachen gepackt, und er wurde zu Onkel Edouard gebracht, dessen Ländereien zwar groß waren, aber nicht ganz so riesig wie die von Papa. Doch die Atmosphäre hier war unbeschwerter, und in gewisser Weise fühlte er sich sicherer. Für Luc war es die glücklichste Zeit seines Lebens, denn Edouard hatte ein fröhliches Gemüt, und seine Ritter waren gut gelaunt.
    Hier wurde Luc zum Knappen ausgebildet. Er zeichnete sich in allen Disziplinen aus: im Tanz, den er zwangsläufig mit den Söhnen der Ritter übte - wobei es stets ein großes Gekicher gab, wenn es darum ging, wer die Rolle der Dame übernehmen sollte und mit wie viel Affektiertheit; in der Falkenjagd, bei der ihm jedes Mal ein Schauer über den Rücken lief, wenn sich der schöne Vogel mit den dicken, scharfen Klauen auf seinem Handschuh niederließ, die großen Schwingen schüttelte, den Kopf neigte und ihn mit bohrendem Blick aus einem Auge anschaute; im Fechten, für das er

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