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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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sahen wir, dass die Axt tief, fast bis zum Griff in die Brust meines Geliebten eingedrungen war. Edouard ging in die Knie und zerrte mit aller Kraft an dem Holzgriff. Als das Blatt sich löste, lockerte er leise weinend den gespaltenen Brustpanzer und entfernte ihn. Dann kniete er rasch neben dem Verwundeten nieder. Mir blieb keine Zeit, in meinem Kummer zu versinken, das war der Augenblick, für den ich gekommen war. Ich schluckte hastig und zog den schweren Helm ab, um das Gesicht meines Geliebten zu befreien. Er hatte die Augen weit aufgerissen und den Blick himmelwärts gerichtet. Ich beugte mich über ihn, doch im ersten Augenblick nahm er mich nicht wahr. Langsam senkte sich der Schleier des Todes darüber. Doch dann konzentrierte er sich mit dem letzten Atemzug und schaute mich direkt an. Meine Augen füllten sich mit Tränen, nicht vor Trauer, sondern beim Anblick der Liebe und der Erkenntnis auf dem menschlichen Antlitz vor mir. Er hatte mich gesehen und erkannt. Das allein genügte, um all meine Furcht, sämtliche Zweifel zu ersticken. Noch immer auf den Knien drückte ich meine Hände auf seine Wunde. Ich berührte sein Herz.
    Sein noch immer schlagendes Herz. Plötzlich hatte ich das Bild des Magiers und der Ratte vor Augen, und während ich das Herz meines Geliebten in Händen hielt, zuckte es einmal, zweimal, ein drittes Mal, immer langsamer ... dann regte es sich nicht mehr. Mein Geliebter war tot. Luc de la Rose war tot.
    Einen Augenblick lang, nicht länger, spürte ich die Gnade der Göttin, dann schlug der überlegene Feind unbarmherzig zu. Ein Strom berittener englischer Soldaten, das letzte Aufgebot, preschte einer Woge gleich heran. Ich wurde niedergeschlagen, schrie auf, als meine Beine unter einem Dutzend Hufe zerschmettert wurden, doch nicht der Schmerz war die Ursache für meinen Schrei. Ich wurde von meinem Geliebten, von seinem Körper getrennt, machtlos hob ich die blutigen Hände zum Himmel empor, doch ich konnte auch mit meinem Zweiten Gesicht nicht sehen, was mit meinem Geliebten geschehen war. Ich geriet erneut unter Hufe. Dann wurde ich von kalten, metallenen Händen gepackt. Sie hoben mich hoch, warfen mich über ein Pferd und trugen mich fort.
CARCASSONNE 1357
XV
    Michel beobachtete, wie Sybille, in Gedanken gerade noch an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit, sich allmählich von der grauenvollen Erinnerung an die Vergangenheit löste. Hatte sie erst durch ihn hindurchgesehen, so klärte sich jetzt ihr Blick, bis sie ihn und ihre gegenwärtige Umgebung wieder wahrnahm. Nachdem sie ihn einen qualvollen Moment lang angestarrt hatte, ließ sie das Gesicht in die Hände sinken und brach in leises, verbittertes Schluchzen aus.
    Erschrocken beugte sich Michel vor und murmelte: »Bitte, ach, Ehrwürdige Mutter, weint nicht. So weint doch nicht ...«
    Doch Sybille schien zutiefst verzweifelt. Ohne zu überlegen, legte Michel ihr tröstend die Hand auf den Arm und zog sie rasch wieder zurück, verwirrt von dem Gefühl, das diese Berührung in ihm auslöste.
    Sybille schaute auf. Tränen glitzerten in ihren dunklen Augen, doch in ihnen lag ein leuchtendes Strahlen, denn sie hatte dasselbe gespürt wie er. Wenn sie nur Christin wäre, dachte Michel, wäre sie gewiss der heiligste Mensch, den er je gekannt hatte. Wie gütig sie zu den Leprakranken gewesen war, wie sehr sie ihre Großmutter und ihre Äbtissin geliebt hatte! Ihr bedauerlicherweise ketzerischer Glaube war fest, und sie selbst mitfühlend und tapfer. Sich allein und unbewaffnet mitten in eine Schlacht zu begeben ...
    Eine erstaunliche Frau, dachte Michel unwillkürlich und schreckte vor der Erkenntnis zurück, die er in seinem Herzen fand: Die Äbtissin war keine Gefangene, die er, wenn auch mit Bedauern, so einfach den Zivilbehörden zur Hinrichtung übergeben, deren Feuertod er bekümmert und erfüllt von Mitleid zusehen könnte oder deren Verdammung er beklagen würde. Ihre Worte, ihre Kraft, allein ihre Gegenwart hatten ihn angerührt, und er hatte sein Herz an diese Frau verloren. Solange er lebte, würde er sein irdisches Dasein in die Zeit vor und nach der Begegnung mit ihr einteilen.
    Herr, vergib mir. Herr, vergib mir meine fleischliche Begierde; lass nicht zu, dass sie mich bei dieser Befragung beeinflusst. Gib, dass ich die Aufgabe, für die du mich ausersehen hast, in aller Demut erfülle.
    »Luc starb also? Und Eure Bemühungen waren erfolglos?«, fragte Michel freundlich. »Weint Ihr deshalb, Ehrwürdige

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