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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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besonders begabt war, und im Reiten.
    Er lernte mit Leichtigkeit die Regeln des Rittertums und die Kunst des Krieges, allerdings fielen sie ihm nicht ganz so leicht wie die Ausbildung seiner anderen Fähigkeiten, auf deren Geheimhaltung er einen Eid geleistet hatte. Sie begann in der Nacht, in der er sein dreizehntes Lebensjahr erreichte, lange nach Sonnenuntergang, als die Welt nur noch aus Schwarz- und Grautönen zu bestehen schien. Edouard trat in Lucs Zimmer und flüsterte dem Jungen, der in der mondlosen Dunkelheit wach im Bett lag, zu: »Komm. Es ist so weit.«
    Ohne Widerworte stand Luc auf. Edouard gab ihm gewöhnliche Kleidung und einen dunklen Umhang und geleitete ihn durch einen schmalen Geheimgang, der vom Zimmer seines Onkels nach draußen zu den Ställen führte. Dort bestiegen sie ihre Pferde und ritten in der klaren Nachtluft eine halbe Stunde über Weiden in die nächste Stadt. Dort führte Edouard seinen Neffen jedoch nicht zu einem Gebäude, das für zwei Ritter von edlem Geblüt angemessen gewesen wäre, sondern zu einer Reihe kleiner, schmaler Häuser. Es waren kaum mehr als Hütten aus Holz und Stroh statt aus Stein, die dicht gedrängt an einer schmalen Gasse standen. Nirgendwo brannte Licht, denn das Abendläuten war längst verklungen. Einfache Leute wohnten dort, schloss Luc, noch dazu arm. Allerdings fehlten diesem Ort die Hoffnungslosigkeit und der Schmutz, die er in anderen Armenvierteln wahrgenommen hatte. Die Gebäude wirkten sauber und gepflegt, und die Umgebung war frei vom Gestank, der über den anderen Straßen der Stadt lag. Und obwohl die Häuser in diesem Viertel alle gleich aussahen, ritt Edouard ohne Zögern durch die engen Gassen auf ein bestimmtes Haus zu, stieg dort ab und klopfte an die Tür.
    Da kein Licht aus den Fenstern drang, nahm Luc an, dass alle Bewohner schliefen, doch ihnen wurde sofort geöffnet. Auch im Innern der Hütte war es dunkel, nur ihr Gastgeber war im schwachen, flackernden Licht eines Kerzenstummels erkennbar. Er überragte Edouard wie ein klobiger Schatten, wie ein großes, zottiges Tier, sagte aber kein Wort, sondern lud sie mit ungeduldigen Gesten ein, hereinzukommen.
    Edouard bedeutete Luc, vom Pferd zu steigen, und dieser folgte ihm zaudernd vor Angst. Ihr Gastgeber führte sie durch einen ersten Raum, in dem es noch nach Essen roch, nach Eintopf und unbekannten Kräutern und nach schäumendem Bier statt nach gewürztem Wein. Darüber lag der Hauch eines Aromas, das Luc noch nie außerhalb der großen Kathedrale gerochen hatte: Weihrauch.
    Aus einer Zimmerecke drang das Atmen schlafender Kinder herüber, und im schwachen Kerzenschein sah Luc die misstrauischen Augen einer Frau aufblitzen. Sie kamen zu einer kleinen Kammer, deren Tür ihr Gastgeber hinter ihnen schloss. Darin war es ebenso dunkel wie im ersten Raum, doch sobald sie ungestört waren, langte Edouard in die Falten seines Umhangs und überreichte ein Geschenk: einige lange Kerzen und eine Flasche Öl.
    Mit tiefer, wohlklingender Stimme sagte der Mann: »Ich danke Euch, Edouard. Die werden unsere Aufgabe erleichtern«, und legte alle Kerzen zur Seite bis auf eine, deren Docht er an die sterbende Flamme in seiner Hand hielt. Die Schatten, die seine Gesichtszüge verborgen hatten, wichen im Kerzenschein, und als der Mann eine große Öllampe aus der Flasche füllte und dann ebenfalls anzündete, konnte Luc ihn in Ruhe betrachten: Er war breitschultrig wie ein Bär, mit außergewöhnlichem Haarwuchs. Sein Haar, das ihm in weißen, grauen und ebenholzfarbenen Strähnen weit über den Rücken fiel, war dicht wie das Winterfell eines Schafes. Sein Bart war so lang, dass der Mann ihn sich in den Gürtel gesteckt hatte, um nicht darauf zu treten, und lockig wie die Flechten eines Mädchens, nachdem die Zöpfe gelöst wurden. Die Augenbrauen überschatteten buschig die Augen, und dazwischen ragte eine große Hakennase hervor.
    Verwirrt bemerkte Luc die kleine schwarze Kappe auf dem Kopf des Fremden und das runde gelbe Filzstück, das auf sein dunkles Gewand geheftet war und ihn als Juden kennzeichnete. Juden waren nach Ansicht der Kirche die schlimmsten Ketzer von allen, und wer Umgang mit ihnen pflegte, wurde von der Inquisition verfolgt. Warum hatte ihn sein Onkel an einen so gefährlichen Ort geführt? Edouard jedoch nahm die vom Alter gezeichnete Hand des alten Juden, hob sie an den Mund und küsste sie respektvoll. »Rebbe. Rebbe, ich bringe Euch meinen Neffen Luc.«
    Der alte Mann

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