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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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beachtete die Geste nicht weiter, sondern beugte sich vor, um Luc genauer in Augenschein zu nehmen. »Endlich, endlich. Sei gegrüßt, Luc. Ich bin Jakob.«
    Ein Jahr lang studierte Luc unter Jakobs Anleitung, und in dieser Zeit untersagte ihm Edouard jeden Kontakt mit seinen Eltern, auch an den Feiertagen. »Du kannst sie nicht sehen«, hatte Edouard ihm traurig mitgeteilt, »vor allem deine Mutter nicht.«
    »Warum?«, hatte Luc gefragt, immer und immer wieder, und stets dieselbe unbefriedigende Antwort erhalten: »Weil deine Mutter an das Böse gebunden ist, das nicht nur dich bedroht, sondern unser ganzes Geschlecht, auch deine zukünftige Geliebte. Und wenn du mit deiner Mutter zusammen bist, lieferst du dich deinem Feind aus.«
    »Aber Jakob kann mich doch beschützen«, hatte Luc dagegengehalten. »Du und Jakob, dann wird mir schon nichts zustoßen ...«
    Edouard hatte geseufzt. »Luc, du musst begreifen, dass dein Feind überaus mächtig ist, und Jakob und ich haben viel zu große Angst um dich, als dass wir uns auf unsere geringeren Fähigkeiten verlassen dürften, dich zu beschützen. Sieh dir nur deine arme Mutter an, wie wenig habe ich für sie tun können.« Beschämt hatte er den Kopf hängen lassen, erschüttert und bekümmert, sodass Luc ihm tröstend die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Schließlich hatte Edouard sich gefasst und hinzugefügt: »Wenn die Zeit gekommen ist, Luc, wenn du deine Weihe empfangen hast, wirst du ein mächtiger Magier sein. Mächtiger als alle deine Feinde. Dann wird es vielleicht so weit sein, dass unsere geliebte Beatrice, deine Mutter, wieder zu uns zurückkehren kann. Doch bis dahin sei auf der Hut, denn dein Feind strebt mit all seiner Macht danach, deine Weihe zu verhindern.«
    Luc hatte geschwiegen, um seinen Onkel nicht noch mehr aufzubringen, doch er schwor sich, seine Mutter den Fängen des Feindes zu entreißen, sobald er in vollem Umfang über seine Kräfte verfügte.
    So begann Lucs eigentliche Ausbildung. Die ersten Lektionen waren äußerst einfach: Er musste lernen, aufrecht wie eine Säule zu sitzen, langsam und gleichmäßig zu atmen, seinen Geist zu leeren, während er still den hebräischen Namens Gottes wiederholte. Er machte rasche Fortschritte, die Jakobs Beifall fanden, und lernte bald, einen schützenden Kreis um sich zu ziehen, eine gedachte Grenze aus blauen Flammen und goldenen Sternen, die durch die Kraft seiner Vorstellung ebenso wirklich wurde wie die flackernde Lampe in Jakobs Zimmer oder wie die Familie, die nebenan schlief.
    Zunächst wurde der Kreis mit einem eigens gesegneten Dolch gezogen, und sobald Jakob dem Jungen das Werkzeug ehrerbietig überreichte, spürte Luc das Messer in seiner Hand vibrieren, ein Gefühl, wie er es empfunden hatte, als er das Bein seines Vaters geheilt hatte. Nach einer Weile verzichteten sie auf den Gegenstand, und Luc spürte dieselbe Macht in seinen Fingern, wenn er den Kreis zog. Schließlich trug Jakob ihm auf, in seiner Vorstellung diesen Kreis jeden Morgen nach dem Aufwachen und jeden Abend vor dem Schlafengehen um sich zu ziehen. »Der Kreis ist ein geschützter Ort«, erklärte ihm Jakob eines Tages, und nachdem Luc die Lektion wie gewöhnlich mit dem Ziehen des Kreises begonnen hatte, zeichnete Jakob sorgsam die Himmelsrichtungen ein und flüsterte mit tiefer Stimme inbrünstig die hebräischen Namen für Gott und die Erzengel.
    »Es ist auch ein Ort, an dem man ohne Wissen des Feindes Magie anwenden kann. Aber vor allem ist es ein sicherer Ort, um in dir die Macht Gottes zu erwecken.«
    Aus den Falten seines Gewandes zog er ein kleines, poliertes Stück Glas und nahm es vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann richtete er die Hand so aus, dass das Licht der Lampe in einem bestimmten Winkel hindurchfiel.
    Luc hielt den Atem an. Denn die nackte Holzwand leuchtete auf einmal in den Farben des Regenbogens, von Rot über Gelb und Blau bis hin zum tiefsten Violett, und als er an sich hinabschaute, sah er, dass auch er in die Farben getaucht war, die von dem Glasstück ausgingen. »Gott ist Licht«, sagte Jakob leise. »Er leuchtet mit ewigem, weißem Glanz. Dennoch ist Seine Pracht so groß, dass sie nicht an einem einzigen Ort festgehalten werden kann. Sein Glanz fließt über und teilt sich in immer wieder neue Erscheinungsformen, so wie das Licht der Kerze sich in die verschiedenen Farben aufteilt.«
    Er hielt inne und ließ das Glas sinken. Der Regenbogen verschwand und hinterließ nur gelb

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