Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
er ein armer Irrer und hatte irgendeinen Unfug über Gott von sich gegeben, für den er jetzt mit dem Leben bezahlen musste. Alle hatten Prellungen im Gesicht und geschwollene Kiefer, Lippen oder Augen.
Den beiden befreundeten Frauen und dem jungen Irren hingen die Arme schlaff von den grotesk verrenkten Schultern herab. Die ältere Frau, deren weiße Haare wirr vom Kopf abstanden, hatte einen dick geschwollenen Unterarm, wahrscheinlich war er gebrochen. Der Heilerin Ana Magdalena zuckte es bei ihrem Anblick in den Fingern. Am liebsten hätte sie die alte Frau mit nach Hause genommen, den Arm eingerenkt und die Kranke anschließend mit Umschlägen und einem starken Trank gegen die Schmerzen getröstet. Doch sie konnte nur in hilflosem Schweigen dasitzen, während die Alte auf den Platz taumelte und zusammenbrach.
Ein Wächter eilte zu ihr und versuchte, sie auf die Beine zu stellen, doch die alte Frau konnte nicht mehr aufstehen. Also trug er sie fort, während die anderen in ihren Ketten weiterschlurften, bis sie schließlich vor dem Scheiterhaufen anlangten.
Als die Gefangenen und ihre Wächter stehen blieben, trat eine Gruppe von Männern auf das hohe Gerüst.
”Zwei Krähen und zwei Pfauen, dachte Ana Magdalena verächtlich. Sie wusste, dass sie auf zwei Inquisitoren aus Paris und zwei Pfarrer des hiesigen Erzbischofs schaute. Der Großinquisitor -ein Mann mit markanten Gesichtszügen, dichten schwarzen Augenbrauen, der die Haare nach römischer Mode kurz trug - erklomm das Podest als Erster und wartete, bis die anderen sich vor ihren gepolsterten Sitzen aufstellten, um sich an die Menge wenden zu können. Er war ebenso mager wie sein großer Gehilfe und bildete in seiner schlichten schwarzen Kutte einen scharfen Gegensatz zu den beleibten Pfarrern, die wie Würste in ihren hellroten Seidenkutten steckten. Eine Trompetenfanfare erklang, dann erschien der Grand Seigneur von Toulouse mit seinem Gefolge, einschließlich seines einzigen Kindes, eines Jungen mit roten Locken, der eine himmelblaue Tunika mit weißen Beinkleidern trug. Der Kleine umklammerte die Hand seines Vaters und starrte mit riesigen Eulenaugen in die Menge. Mit einem Ruck löste sich Sybille aus den Armen ihrer Großmutter, setzte sich kerzengerade auf und sah stirnrunzelnd zu dem Jungen hinüber. Ana Magdalena beobachtete sie dabei. Das war mehr als nur die Zuneigung eines Kindes zu einem anderen. Kannte das Mädchen ihn vielleicht aus einer anderen Zeit?
Während Sybille und Ana Magdalena zuschauten, nahmen der Feudalherr und sein Gefolge ihre Sitze ein; die Krähen und Pfauen taten es ihnen nach. Nur der Großinquisitor blieb stehen und verharrte wie eine Natter vor seiner Beute.
Sein Gehilfe trat vor und begann mit vollendeter Selbstbeherrschung die Liste der Namen mit den dazugehörigen Anklagen vorzutragen:
»Anne-Marie Georgel, verurteilt wegen maleficium gegen ihre Nachbarn, Teilnahme am Hexensabbat, Anbetung des Teufels und schändlicher Buhlschaft mit demselben.
Catherine Delort, verurteilt wegen maleficium gegen ihre Nachbarn, Teilnahme am Hexensabbat, Anbetung des Teufels und schändlicher Buhlschaft mit demselben.
Jehan de Guienne, verurteilt wegen maleficium gegen seine Nachbarn ... Sechsmal folgten dieselben Anklagen, selbst gegen die arme alte Frau, die reglos und noch immer gefesselt auf der Seite lag. Der weinende, grauhaarige Mann fiel auf die Knie, als er hörte, wie sein Name laut vorgelesen wurde, und schrie: »Ich gestehe! Ich gestehe alles und flehe um Vergebung vor diesem Tribunal und vor Gott. Nur verschont mich ...!«
Der Inquisitor hob die Hand und gebot Schweigen. »Es bekümmert dieses Tribunal«, rief er mit ruhiger Stimme, »dass wir mit unserer ursprünglichen Mission gescheitert sind, alle Ketzer zurück zu Gott zu führen. Doch das Wort Ketzer selbst bedeutet >Wahl<, und diese Unseligen hier haben sich dafür entschieden, Gott zu verleugnen. Deshalb haben wir sie Eurer örtlichen Obrigkeit übergeben, die sie für ihre schlechten Taten zum Tode verurteilt hat. Die ehrbaren Henkersknechte hier werden für ihre Hinrichtung sorgen, und der Grand Seigneur wird als Zeuge der Regierung dienen.
Ich ermahne Euch, ihr guten Menschen von Toulouse, von offener Feindseligkeit gegenüber den Verurteilten abzusehen. Verflucht sie nicht, sondern habt Mitleid mit ihnen und betet, dass ihre Ketzerei Euch zur Glaubenstreue anregt. Denn die Todesqualen, die ihnen jetzt bevorstehen, sind nur ein schwacher Schatten der
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