Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
groß gewachsenen Gehilfen mit dem breiten Gesicht. Mit übernatürlicher Klarheit sah sie ihn und beobachtete zitternd, wie er langsam den Kopf drehte, bis er ihrem Blick begegnete, wobei sich seine Lippen fast unmerklich im Triumph verzogen. Das Sonnenlicht glitzerte -gelbgrün und räuberisch - in seinen Augen, und als Ana Magdalena einzuatmen versuchte, gelang es ihr nicht.
Das war das Böse. Doch mit einem plötzlichen Gefühl der Offenbarung wusste sie auch, dass dieser Mann, der das Böse verkörperte, am selben Tag geboren wurde wie sie. Er war dazu bestimmt, ihr Seelenverwandter zu sein, er der Herr, sie die Herrin, ein Auserwählter des Geschlechts, doch sein Abscheu vor sich selbst hatte ihn zum Gegenteil dessen gemacht, was die Göttin beabsichtigt hatte. Die angeborenen Zauberkräfte benutzte er jetzt, um sein eigenes Volk zu jagen, sich an ihm zu nähren. Und dabei wurde er tagtäglich stärker, sodass die Gefahr für sie beständig wuchs ...
»Domenico«, flüsterte sie und erkannte in ihm den jungen Mann, der den Stein durch das Kirchenfenster geworfen hatte, um gegen ihre Vermählung zu protestieren. Sie hatte ihn einst abblitzen lassen, denn er hatte sich entschieden, die Göttin und damit sein Schicksal abzulehnen. Jetzt war er ihr nach Frankreich gefolgt und versuchte, ihre Enkelin zu vernichten. Sie schloss die Augen. Als Ana Magdalena sie wieder aufschlug, wand sich statt des Irren die schöne, junge, gottgleiche Sybille aus Ana Magdalenas früherer Vision in Qualen auf dem Scheiterhaufen, das schwarze Haar war verbrannt, ihr Kopf nur noch ein versengter Schädel; die einer Rosenknospe gleichenden Lippen waren zu einem einzigen Aufschrei verzerrt.
»Sybille!«, schrie Ana Magdalena im Stillen, und im Geiste flüsterte ihr der Feind zu:
Weißt du, warum dich das Feuer so erschreckt? Weil du immer schon gewusst hast, dass dies dein Schicksal ist. Weil du immer schon gewusst hast, dass es ihr ebenso ergehen wird. Du kannst mir nicht ewig entkommen ...
Mit einem donnernden Rauschen in den Ohren, als hätte sie ein heftiger Windstoß umgeworfen, wurde Ana Magdalena plötzlich vom Wagen gezerrt. Sie schlug die Augen wieder auf und befand sich mitten in einer großen Feuersbrunst -neben ihr die erwachsene Sybille, die wie alle anderen Leidenden auf einen Scheiterhaufen gebunden war und in Todesqual aufschrie angesichts der undurchsichtigen Flammenwand ringsum.
Auf dem Gerüst saß der Feind, der in sicherer Entfernung lächelte, die von den Leidenden ausgestoßenen Dämpfe einsog, wie man Rauch aus einer Pfeife einatmet, und genießerisch seufzte.
Dann werde ich eben nicht schreien, sagte sich Ana Magdalena. Ich werde ihn nicht füttern ... Und mit quälender Willensanstrengung schloss die alte Frau Mund und Augen. Mit einem Ruck kehrte Ana Magdalena in die Wirklichkeit zurück und stellte sogleich fest, dass ihre Enkelin nicht mehr sicher auf ihrem Schoß saß. Das Mädchen war aufgestanden und nach vorn gegangen, bis sie -zerstreut, ja, geradezu entrückt - am niedrigen Rand des Wagens stand.
»Sybille, Liebes«, sagte Ana Magdalena rasch und unterdrückte eine neue Welle der Panik, »komm wieder her und setz dich zu mir, sonst fällst du noch runter.«
Seltsamerweise rührte sich das Kind nicht, um seiner Großmutter zu gehorchen, sondern blieb reglos mit dem Rücken zu den anderen stehen, offenbar gefangen genommen von dem grausamen Schauspiel.
»Marie Sybille!«, fuhr Catherine sie in einer Mischung aus Überraschung und Entrüstung an. Die Kleine hatte noch nie in ihrem kurzen Leben die Älteren missachtet oder gezögert, ihren Befehlen Folge zu leisten.
»Hast du nicht gehört, was deine Großmutter gesagt hat? Komm her!«
Das Mädchen rührte sich noch immer nicht, sondern stand merkwürdig steif und aufrecht da in seinem schlichten Kleid und mit dem kohlrabenschwarzen Zopf, der in einer geraden Linie über seinen Rücken herabfiel.
»Die Flammen«, wandte die Kleine sich dann mit der traurigen Stimme einer erwachsenen Frau an ein unsichtbares und fernes Gegenüber.
»Mutter Gottes, die Flammen ...« Abrupt stand Catherine auf und taumelte über das unebene Stroh auf ihr Kind zu, und als sie an Ana Magdalena vorbeiging, bemerkte die alte Frau das seltsame grünliche Glitzern in den Augen ihrer Schwiegertochter - die unmittelbare Nähe des Feindes.
Die alte Frau sprang auf und packte Catherine beim Ellenbogen. Die Jüngere fuhr zornig herum, doch es war zu spät. Mit dem anderen
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