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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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selbstbeherrscht - eine Erwachsene im Körper eines Kindes. Sie hatte die ruhige Beständigkeit ihres Vaters geerbt und nichts von Catherines flatterhafter Furcht oder ihrem hitzigen Gemüt. Das ganze letzte Jahr über hatte die Kleine sogar schon ohne kindliche Ausdrücke gesprochen, und wenn sie redete, klang es, als wäre sie um Jahre älter als Thereses Sohn Marc, der ein halbes Jahr vor ihr zur Welt gekommen war. Sybilles Stimme jedoch klang noch hoch und piepsig.
    Als seine Tochter sechs Monate alt war, hatte Pietro schließlich ein Machtwort gesprochen und den beiden Frauen gesagt:
    Sie heißt nicht Marie, und sie heißt nicht Sibilla. Sie heißt Sybille, Catherine - ein guter französischer Name, und zwar der meiner Großmutter -, und auch du, Mama, wirst sie Sybille rufen, denn sie ist keine Italienerin, sondern Französin. Und wenn ich euch beide noch einmal streiten höre, werde ich euch in die Garonne werfen und das Mädchen alleine großziehen.
    Die beiden Frauen hatten sich redlich bemüht, denselben Namen zu verwenden. Zumindest versprachen sie sich nicht mehr, obwohl es Zeiten gab, in denen Catherine offenbarte, wie für sie der richtige Name des Kindes lautete - dann nannte sie ihre Tochter Marie. Auch Ana Magdalena rutschte aus Zuneigung manchmal der Name Sibilla heraus, wenn sie allein mit ihr war.
    Seit der Nacht, in der das Mädchen geboren wurde, versuchte Ana Magdalena, den Rat zu befolgen, den die Göttin ihr im Olivenhain gegeben hatte: jegliche Furcht von ihrem Herzen fern zu halten, ebenso von Catherine, indem sie Zauber anwendete, um die Kleine zu schützen.
    Die drei weiblichen Hausbewohner hatten in den vergangenen Jahren so harmonisch miteinander gelebt, dass Ana Magdalena das Böse schon beinahe vergessen hatte, das ihre Enkelin einst bedroht und ihre Schwiegertochter mit heftigem Misstrauen erfüllt hatte.
    Als Pietro seine Tochter auf den Wagen hob, schmiegte sich Sybille sofort in die Arme ihrer Großmutter, sehr zu Ana Magdalenas Entzücken. Allem Anschein nach hatte die Kleine ihre Großmutter immer am liebsten gemocht, was die ältere Frau mit schuldbewusster Freude erfüllte. Sie liebte die Enkelin ihrerseits heftig und hätte mit Freuden ihr Leben für sie geopfert. Catherine sah matt lächelnd zu, ohne nach außen hin auch nur die geringste Spur von Eifersucht zu zeigen.
    Sybille setzte sich auf den Schoß ihrer Großmutter - vorsichtig, ohne sich fallen zu lassen, wie es jedes andere Kind getan hätte -, legte beide Arme um Ana Magdalenas Hals und gab ihr einen Kuss, wobei sie ihr zuflüsterte: »Warum bist du denn so traurig, Noni?«
    Ana Magdalena lehnte sich überrascht zurück, um das Mädchen anzuschauen, doch ihr blieb keine Zeit zu antworten. Stille senkte sich über die Menge. Ana Magdalena schaute auf. Ihr Herz schlug schneller, als sie eine Gruppe Soldaten auf dem Wall erblickte. Acht große Scheiterhaufen waren errichtet worden.
    La bona Dea, hilf mir, das zu ertragen ... Sie drückte die Lippen in Sybilles Haare und atmete den süßen, herben Geruch des verschwitzten Kindes ein. Ein Raunen ging durch die Menge wie eine Brise, als in der Ferne eine Prozession von der Kathedrale her auftauchte. Es handelte sich um eine Gruppe Gefangener, die von einem unnötig großen Kontingent an Wachen eskortiert wurde.
    Bald schon konnte man die sechs Frauen und zwei Männer erkennen, alle geschoren und in Büßerhemden, an den Füßen in Eisenketten gelegt, sodass sie nur zu kleinen, stolpernden Schritten imstande waren. Dabei waren sie so schwer geschlagen worden, dass sie auch ohne Fesseln nicht hätten laufen können.
    Sechs Frauen und zwei Männer, acht namenlose Gesichter, denen der Feuertod drohte, doch Ana Magdalena sah jeden Einzelnen dank ihrer Sehergabe klar und deutlich vor sich: ein trotziges fünfzehnjähriges Mädchen mit rot umränderten Augen, aber stolzer Haltung; eine Alte, die so gebeugt und altersschwach war, dass sie mit den schweren Ketten kaum laufen konnte; zwei hübsche, kräftige Frauen, offensichtlich treue Freundinnen, die sich gegenseitig mit Blicken ermutigten; eine ergrauende Frau mittleren Alters mit ernster Miene und leerem Blick; und eine junge Mutter, keine zwei Tage nach der Niederkunft, deren Bauch weich und deren geschwollene Brüste voll Milch waren. Außerdem die Männer: Der eine, alt und weinend, schritt mit hängendem Kopf einher, der andere, kaum zwanzig, hatte einen wilden Blick und murmelte immerzu vor sich hin. Offensichtlich war

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