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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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ewigen Folter, die sie noch innerhalb derselben Stunde erwartet.«
    Mit diesen Worten nahm die Krähe endlich Platz.
    Sogleich hatte Ana Magdalena das Gefühl, sie säße nicht mehr im Stroh auf dem Karren neben ihrer kleinen Enkelin, sondern dort auf dem Podium, so nah beim Feudalherrn, dass sie ihn berühren konnte - nein, so nah, dass ihre Nasen sich berührten und sie seinen warmen Atem auf ihren Wangen spürte, dass sie jede Falte auf seiner Stirn und zwischen seinen dunklen Augenbrauen erkannte, seinen Adamsapfel hüpfen sah, wenn er schluckte, und beobachten konnte, wie sich die kleinen Muskeln in seiner glatt rasierten Wange verzerrten, als er die Zähne zusammenbiss.
    So nah, dass sie die Furcht in seinem Herzen spürte und wusste, dass diese ebenso groß war wie ihre eigene. Ana Magdalena wusste, genau wie er, dass sie unschuldig waren, jeder Einzelne, dass die Geständnisse erlogen waren, erzeugt von den heimlichen Träumen des Inquisitors. Sie wusste, dass einige von ihnen - vor allem das fünfzehnjährige Mädchen, die würdige Frau Delort und der weinende Mann - die Sehergabe besaßen und nur unüberlegt davon Gebrauch gemacht hatten oder so unvorsichtig gewesen waren, sie nicht vor anderen zu verbergen. Sybilles Großmutter schaute auf das hübsche, markante Gesicht des Feudalherrn, direkt in seine Augen, dann auf ihre versteinerte Enkelin und erkannte: Kein Wunder, dass sie ihn so anstarrt, der Seigneur ist einer von uns.
    Doch ihre Aufmerksamkeit wurde abgelenkt vom Schauspiel der Henkersknechte in ihrer Nähe, die den jungen Mann zu dritt zum ersten Scheiterhaufen zerrten. Der Verurteilte kämpfte so gut er konnte, obwohl er an Füßen und den herabbaumelnden Armen gefesselt war. Mit der unheimlichen Kraft eines Irren beugte er sich zurück und versetzte zuerst dem einen, dann dem anderen Mann einen Stoß mit dem Kopf. Doch das war noch nicht alles. Der dritte Wächter trat hinzu und landete einen kräftigen Hieb auf dem Unterkiefer des jungen Mannes. Seine Knie gaben sofort nach, und die beiden anderen Wachen packten ihn unter den Schultern und zogen ihn auf seinen Scheiterhaufen, was die Menge mit lautem Johlen begleitete. Sie zwangen ihn in die Knie und banden ihn so fest. Selbst dann noch, als sie Holzspäne um ihn herum aufschichteten, tobte er und spie seinen Häschern ins Gesicht.
    Inzwischen zogen zwei andere Henkersknechte die ohnmächtige Alte auf den zweiten Scheiterhaufen, brachten sie so gut es ging in eine kniende Stellung und banden sie ebenfalls fest. Ihr Kopf sank vornüber, sodass ihr Gesicht verborgen war und man nur die dünne Aureole ihrer geschorenen Haare und den rosa Schädel darunter sehen konnte. Die anderen wurden zu zweit auf Scheiterhaufen gebunden, und als die Männer ihr Werk vollendet hatten, begannen die Mittagsglocken zu läuten. Nachdem alle Gefangenen auf ihren Plätzen waren, stieß ein Wächter zwei Feuersteine aneinander, während ein zweiter einen ölgetränkten Lappen an einem Schürhaken in die Funken hielt. Der Lappen fing sofort Feuer, und der Knecht trug ihn zuerst zu dem Haufen aus Holzscheiten und Spänen, der den knienden jungen Irren bis zu den Hüften umgab. Ana Magdalena wandte den Kopf ab und schlug die Hände vors Gesicht. Obwohl sie nicht hinschaute, konnte sie doch die Stimme des Irren nicht auslöschen, als dieser in lasterhaftem Zorn aufheulte: »Zur Hölle mit euch! Zur Hölle mit euch allen!«
    Als ein Windstoß den Geruch nach Rauch und brennendem Fleisch herantrug, brach der Vorsatz, den Ana Magdalena in den vergangenen fünf Jahren als wichtigsten in ihrem Herzen gehütet hatte, in sich zusammen. Sie zitterte bei der Erinnerung an die Schmerzen, die sie in jener Nacht, als Sibilla geboren worden war, im Olivenhain erlitten hatte. Die Flammen waren nur eine Vision gewesen, und doch war die durch sie hervorgerufene körperliche Qual echt, auch wenn die Furcht in Ana Magdalenas Herz eine noch größere Pein bedeutete. Seit ihrer Kindheit in der Toskana war ihre tiefste, geheimste Sorge, dass die ihr von der Göttin verliehene Gabe eines Tages von der Kirche entdeckt und ihr Leben auf dem Scheiterhaufen enden würde. Jetzt, da sie sich wieder an ihre Vision erinnerte, überkam sie diese Furcht von neuem.
    Langsam spreizte sie die Finger, als sie spürte, dass ihr Blick vom Gerüst und den Männern, die dort saßen, magisch angezogen wurde; nicht vom Seigneur und seinem Sohn oder den Pfauen, nicht einmal vom Großinquisitor -sondern von seinem

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