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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Arm holte sie nach ihrer Tochter aus. Die Bewegung hätte ebenso gut ein Versuch sein können, sie zu ergreifen, wie sie zu stoßen ... Sybille verlor das Gleichgewicht. Sie schrie auf, als sie zusammenfuhr und über den Wagenrand fiel, woraufhin noch mehr Schreie ertönten: von Catherine, dem verstörten Maultier, Pietro und Ana Magdalena...
    Das sind die Erinnerungen meiner Großmutter, wie sie und die Göttin sie mir zur Kenntnis gebracht haben. Meine eigene Erinnerung an das Ereignis ist eine ganz andere.
    Ich weiß noch, dass ich in die Flammen schaute, als der ganze Himmel zu flirren begann wie die erhitzte Luft über einem Feuer. Und dann begann er zu schmelzen, sich aufzulösen und allmählich eine andere Szene zu offenbaren, eine andere Wirklichkeit. Ich war von dem plötzlichen Szenenwechsel so gefangen genommen, dass ich mir meiner Existenz außerhalb der Vision nicht bewusst war. Ich war vollkommen darin versunken.
    Toulouse, so wie ich es kannte, wich einer wesentlich größeren Stadt mit einem noch prächtigeren Platz, der von einer riesigen, herrlichen Kathedrale und einem weißen Marmorpalast umgeben war, geräumig genug für einen König, sowie anderen üppigen Bauten, die von ansehnlichem Wohlstand zeugten, von Rom in all seiner Pracht. Im ersten Moment bestaunte ich diese Herrlichkeit, im nächsten wurde ich in die Hölle gestoßen, und eine Feuerwand verdunkelte die strahlenden Bauten. In den züngelnden Flammen wanden sich düstere Gestalten, Körper, die darin gefangen waren, und sie riefen mir entgegen: Schwester, hilf uns! Du bist die Einzige, die uns retten kann ...
    Sie streckten mir die Arme entgegen und flehten mich an. In dem Versuch, sie zu retten, hielt ich ihnen die Hände hin, schrie aber vor Schmerz auf, als das Feuer meine Haut berührte. Ich war nicht davor gefeit. Beschämt zog ich mich zurück, wollte verzweifelt ihr Leid lindern, während ich zugleich versuchte, es von mir selbst abzuwenden. Da erkannte ich, dass ich in der Falle saß, denn mit einem Mal umgaben mich die Flammen - und die schreienden Opfer darin.
    Dann sah ich jenseits davon zwei Gestalten stehen, eine schwarze und eine weiße. Plötzlich überkam mich das überwältigende Verlangen, auf die weiße Gestalt zuzugehen. So trat ich einen Schritt vor in die Flammen, doch der Schmerz ließ mich gequält aufstöhnen und zurückweichen.
    Während ich zitternd vor Furcht zusah, näherte sich die schwarze Gestalt immer mehr der weißen ... Mit schrecklicher Gewissheit spürte ich, dass es den Triumph des Bösen bedeutete, wenn die Dunkelheit das Licht verzehrte. Noch einmal stieß ich meinen Arm in das Feuer und brüllte erneut laut, sowohl vor Schmerz als auch vor Enttäuschung darüber, dass mein Entsetzen mir nicht gestattete weiterzugehen.
    Dennoch wusste ich, dass alles verloren wäre, wenn ich mich nicht dem Feuer aussetzte und hindurchginge. Ich verfolgte, wie die dunkle Gestalt sich einer Schlange gleich um das Licht wand und begann, es zu verschlingen. Noch ehe das Licht verlosch, rief es Gott direkt an - nein, eine Macht, die viel älter und weiser und mächtiger ist als Gott - und es wurde erhört.
    Ich warf mich in das Feuer und versuchte sie ebenfalls zu erreichen.
    Sogleich fiel ich in eine süße, zeitlose Ekstase, die man nicht mit Worten beschreiben kann. Ich trat mit einer derart Ehrfurcht einflößenden, allumfassenden Macht in Verbindung, die so weit jenseits menschlicher Grenzen lag, dass mein Verstand zu klein war, um ihre Allmacht zu begreifen, und ich mich in ihrer Gegenwart gedemütigt fühlte. Doch die Macht hatte nichts gemein mit dem strengen Gott, wie er uns vom Dorfpfarrer dargestellt wurde, sie war nicht der Gottvater über Hölle und Verdammnis, Gebote und Fegefeuer. Sie scherte sich keinen Deut um Sitte und Regeln, die nichtige Politik der Prälaten oder die Art und Weise, in der man Sie anbetete, wenn man es überhaupt tat. Sie war einfach. Sie war das Leben selbst, fröhlich, chaotisch und allumfassend. Es war die reine Verzückung.
    Als mein Verstand sich schließlich von der zeitlosen Leere erholte, sah ich mich im Olivenhain vor der Statue der Heiligen Jungfrau knien - doch Sie lebte, war eine lebendige Frau, die atmende Verkörperung der unsäglichen Freude, die ich empfunden hatte. Zuerst hatte Sie das lächelnde Gesicht meiner geliebten Großmutter. Dann verwandelte Sie sich in mich als erwachsene Frau, begrüßte lachend und mit offenen Armen mein kniendes kindliches Ebenbild.

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