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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Mädchen für eine viel ältere und ungezähmtere Macht einforderte.
    Einen Augenblick lang sahen sich die beiden Frauen in kaltem Schweigen an. Dann erhob sich Ana Magdalena langsam und half Catherine mit dem Säugling auf.
    »Komm, mein Kind. Leg deinen Arm um meine Schultern, so ... Langsam, langsam. Wir wollen sehen, dass du und das Kind nach Hause kommt.«
    Catherine spürte einen Stich - keinen körperlichen Schmerz, sondern einen Stich des Bedauerns. Sie hatte diese Frau lieben wollen, ihr vertrauen, um endlich eine eigene Mutter zu haben, doch zum Wohle ihrer Tochter wagte sie es nicht. Denn obwohl Ana Magdalena nur freundlich zu ihr gesprochen und mit ihren letzten Worten aufrichtige Besorgnis gezeigt hatte, spürte Catherine die Bedeutung, die dahinter lag, hart und unerbittlich: Ihr Name ist Sibilla ...
V
    Das ist die Geschichte meiner Geburt, sagte Sybille, wie die Göttin sie mir offenbart hat. In den ersten Jahren meiner Kindheit geschah nichts Bemerkenswertes, doch im Jahre 1340 kam der Inquisitor Pierre Gui, ein Bruder des besser bekannten Bernhard, in unsere schöne Stadt - und mit ihm kam eine Vision über mich und meine erste Erfahrung mit der Gabe des Sehens.
    Ich erzähle es, wie man es mir wiedergegeben hat, denn ich erinnere mich nur an einen Teil, und darauf werde ich später zurückkommen...
TOULOUSE Juni 1340
VI
    Der Marktplatz von Toulouse lag direkt vor der Kathedrale, die sich noch im Bau befand. Er war überfüllt von Menschen in festlicher Stimmung. Mehr Menschen, dachte Ana Magdalena bei sich, als sie je auf einem Platz versammelt gesehen hatte. Vor ihr hielten vielleicht hundert andere Karren aus den umliegenden Dörfern, alle voller Leibeigener mit ihren Kindern. Vor den aufgereihten Karren standen außerdem Hunderte von Menschen, den Blick auf den Wall gerichtet, auf dem Pfähle aufgestellt worden waren. Dutzende von Wachen hatten um den Wall und um das direkt dahinter errichtete Gerüst herum Aufstellung genommen.
    Und das waren nur die Bauern; rund um die Kathedrale und den Platz saßen die Adligen in pompösen Turnierlogen mit Schattendächern. Zur allgemeinen Erheiterung der Leibeigenen war es an jenem Tag nach zwei für Mitte Juni ungewöhnlich heißen Wochen um mehr als zehn Grad kälter als erwartet. Schadenfroh beobachteten sie die Adligen, die im Schatten fröstelten, sobald sich die kühle Brise erhob, während die Bauern die milde Wärme der Sonne genossen.
    Einige flüsterten sich zu, das merkwürdige Wetter sei durch Hexerei herbeigeführt worden, doch die meisten zeigten einfach nur auf die frierenden Edelleute und lachten.
    Ein Großteil der Unterhaltung war durch die Hochwohlgeborenen und ihren Putz gewährleistet: die Männer in ihren Röcken, Beinkleidern und mit Federn geschmückten Kappen in den Farbtönen Hellgelb, Safran und Rot, die Damen in rubinroten, smaragdgrünen und saphirblauen Seidengewändern, behängt mit goldenen Ringen und Diademen, an denen hauchdünne Schleier im Wind flatterten. Aufgeregt beugte sich Catherine auf ihrem Sitz neben Ana Magdalena vor und stieß die ältere Frau an, um sie auf die eine oder andere Dame aufmerksam zu machen und eine Bemerkung über einen neuen Farbstoff, ein ungewöhnliches Kleidungsstück oder eine noch aufwendigere Haartracht fallen zu lassen.
    Im hinteren Teil des großen, mit Stroh ausgelegten Wagens ließen sich Pietro mit seiner Familie ebenso wie sein Nachbar George mit seiner Frau Therese und den vier Söhnen im Alter von drei Monaten bis fünf Jahren die mitgebrachte Mahlzeit schmecken. Zu diesem festlichen Anlass waren alle Leibeigenen von der Arbeit auf den Feldern befreit worden, auch auf Georges Wagen hatten alle ihren Spaß - außer Ana Magdalena. Sie zwang sich zu lächeln und zu nicken, aus dem gemeinsamen Bierkrug zu trinken und Brot, Käse und den frisch zubereiteten Senf mit offensichtlichem Appetit zu essen, doch das Herz war ihr schwer.
    Nur ein Anblick linderte die Traurigkeit der alten Frau: ihre Enkelin Sybille, die vor Gesundheit strotzte und gerade mit Thereses älteren Jungen wild um den Wagen herumrannte. Ihre strammen kleinen Beine stampften über den Boden, die Wangen waren rot, und der dunkle Zopf hüpfte ständig auf und ab.
    »Sybille!«, rief Catherine fröhlich. »Es wird Zeit, etwas zu essen.« Sie musste sich nicht wiederholen. Das Mädchen hielt mitten im Lauf inne und kam sofort gehorsam an die Seite des Wagens.
    Schon mit vier, beinahe fünf Jahren war Sybille unglaublich

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