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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Einmal tätschelte sie mir die Hand und flüsterte tröstend: »»La bona Dea hat mir gesagt, dass meine Zeit noch nicht gekommen ist.«
    Wir waren zutiefst erleichtert. Es handelte sich nicht um die gefürchtete Plage aus Marseille und Narbonne, und falls doch, dann waren die Geschichten, die man uns erzählt hatte, grob übertrieben. Am vierten Tag von Nonis Krankheit, als sie schon wieder aufstehen konnte, klopfte eine Besucherin an unsere Tür. Draußen stand eine Küchenmagd, kaum älter als ich, hübsch und drall in einer fleckigen weißen Schürze, der dunkle Rock und die Ärmel mit Mehlstaub bedeckt. Entweder arbeitete sie auf dem Anwesen des Feudalherrn, oder sie war den weiten Weg aus der Stadt gekommen. Sie sah so atemlos und derangiert aus, als wäre sie die ganze Strecke gerannt. Aus dem weißen Tuch, das sie sich um den Kopf gebunden hatte, waren hellbraune Haarsträhnen herausgerutscht.
    »Die Hebamme!«, keuchte sie, als sie meine Mutter sah. Maman war auf das laute Klopfen hin zur Tür geeilt, deren obere Hälfte offen stand, um die frische Morgenluft hereinzulassen.
    »Seid Ihr die Hebamme? Ihr müsst sofort kommen! Meine Herrin ist in Nöten, und ich kann den Arzt nicht finden!«
    Meine Mutter warf einen Blick über die Schulter zu Noni, die auf dem Bett saß, dann zu mir auf einem Hocker daneben. Die junge Frau reckte den Hals und schaute uns unsicher an. Ich bemerkte einen Anflug von Entsetzen in ihren Augen.
    »Es ist nur das Wechselfieber«, erklärte meine Mutter mit fester Stimme. »Und es geht ihr schon besser. Sie ist die Hebamme, ebenso meine Tochter, die mit dir gehen wird.«
    Die Küchenmagd beäugte mich skeptisch, und als Noni ihren zögerlichen Ausdruck bemerkte, rief sie schwach: »Meine Enkelin ist ebenso geschickt wie ich, denn ich bilde sie seit sechs Jahren aus.«
    »Und ich werde sie als Gehilfin begleiten«, fügte meine Mutter hastig hinzu. Hin und wieder ging Maman Noni und mir zur Hand, und damals betonte sie es, um die Ängste der Frau zu zerstreuen.
    Nachdem meine Mutter sich angeboten hatte, lehnte Noni sich an mich und flüsterte mir ins Ohr: »Gib Acht, dass du nichts sagst oder tust, was deine Mutter misstrauisch machen könnte.«
    Meine Großmutter wusste, dass ich häufig meine Sehergabe verwendete, wenn ich bei Geburten half. Als ich nickte, merkte ich, dass Maman uns plötzlich scharf anschaute, als wüsste sie genau, was Noni mir zugeraunt hatte.
    »Dann lasst uns gehen!«, rief die Magd und rang ihre dicken, weichen Hände. Ich griff nach Nonis Bündel mit Kräutern und Utensilien und eilte mit meiner Mutter zur Tür hinaus.
    Draußen wartete ein stabiler Karren, vor den ein glänzendes, gepflegtes Pferd gespannt war. Darin saßen fünf weinende Kinder. Wir fragten nicht nach ihren Eltern, obwohl sie offensichtlich nicht zur Küchenmagd gehörten. Die Mädchen trugen mit Pelz besetzte Brokatkleider, die Jungen Tuniken aus bestickter Seide.
    „Kinder«, begann ich freundlich, während Maman und ich die Arme ausbreiteten, um sie zu trösten. »Warum weint ihr denn? Ist es wegen eurer Mutter? Keine Bange, wir werden uns um sie kümmern, und bald werdet ihr eine neue Schwester oder einen Bruder haben.«
    Doch sie schraken vor uns zurück, kauerten sich eng aneinander und gaben keinen Mucks von sich. Schweigend fuhren wir am Dorfplatz vorbei, dann an den Feldern, am Herrenhaus und an den großen Mauern bis in die Stadt. Ein Ausflug in die Stadt war für uns eine Tagesreise, und wir unternahmen ihn nur ein paar Mal im Jahr, wenn wir dort zum Markt gingen. Als wir nun durch die Stadttore fuhren, erwachte das Leben ringsum mit Menschen aller Schichten. Auf dem Lande sahen wir nur Leibeigene wie unsereins, doch hier mischten sich arme Kleinbauern in Lumpen mit Adligen hoch zu Ross in heller Seide und Federhüten und mehr oder weniger wohl situierten Kaufleuten. Wir fuhren mitten durch die Stadt, vorbei an den kleinen Handwerksbetrieben: Schmiede, Mühle, Bäckerei, Schusterei, aber auch an Schenke und Gasthaus. Schließlich bogen wir in die Rue de l'Orfevrerie ein - die Straße der Goldschmiede.
    Auch hier stand eine Reihe von gleichartigen Gebäuden, dreistöckige Fachwerkhäuser, die sich ebenso wie die Bauten in anderen Straßen aneinander lehnten. Manche waren blau, andere hellrot, wieder andere weiß gestrichen. In den Läden im Parterre, deren Auslagen auf die geschäftige Straße hinaus ragten, hielten aufmerksame Besitzer nach Dieben Ausschau. Über unseren

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