Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
man die armen Leute gestern getötet hat. Aber bedenke: Die Göttin hat dir diese Dinge aus einem bestimmten Grund gezeigt. Du darfst sie nie vergessen, sondern musst sie in deinem Herzen bewahren und warten, dass Sie dich führt ...«
SOMMER 1348
VII
Als der schwarze Tod wütete, sagte man, das Ende der Welt sei gekommen.
Ich wusste es besser. Die Welt kann körperlichen Krankheiten standhalten, ungewiss hingegen bleibt, ob sie die Krankheit überlebt, welche die Seelen unserer Verfolger frisst.
Als die tödliche Seuche zuschlug, hatte sie keinen Namen. Welche Bezeichnung hätte auch das Entsetzen richtig wiedergegeben, das sie mit sich brachte? Wir nannten sie einfach Pestilenz - la peste. Aus dem Süden und Osten drangen Gerüchte über diese Krankheit zu uns, zuerst aus Marseille, wo sie im Januar auf Schiffen ankam, die das Mittelmeer überquert hatten. Sie verbreitete sich entlang der Küste bis zum Golf von Lyon, wo sie im Februar den Hafen von Narbonne erreichte. Im März, als wir erfuhren, dass sie westwärts von uns nach Montpellier zog, atmeten alle erleichtert auf -wir dachten, wir seien davongekommen. Noch im selben Monat segelte der Tod die Rhone aufwärts nach Avignon, dem Sitz des Papstes, und man munkelte, Gott habe Papst Clemens damit für seine dekadenten Exzesse bestrafen wollen.
Im April traf es unsere Nachbarstadt Carcassonne. Dennoch haben wir die furchtbaren Geschichten, die man uns erzählte, nicht richtig geglaubt: von einer Krankheit, bei der die Zunge der Menschen schwarz wurde und Beulen in der Größe eines Apfels unter der Haut entstanden; von schweigenden Schiffen, die auf Grund liefen, weil die Seeleute tot an den Rudern saßen; von Klöstern in Marseille und Carcassonne, aus denen keine Menschenseele entkam; von ganzen Dörfern, die ohne einen einzigen Überlebenden zugrunde gingen. Wir hatten Spaß an der Weitergabe dieser grausigen Geschichten, doch wir nahmen sie uns nicht zu Herzen. Wir hielten sie vielmehr für gruselige Unterhaltung- wie Gespenstergeschichten. Solche Katastrophen mochten Fremde treffen, aber uns doch nicht. Niemals.
Uns ging es schließlich gut, wir waren gesund, und so unternahmen wir weder etwas, um uns zu schützen, noch versuchten wir, vor der nahenden Plage zu fliehen. Gott hatte uns zugelächelt. Die Felder waren bestellt, und wir hatten alle am Tanz um den Maibaum teilgenommen. Jetzt erblühte die Welt mit den üppigen Verheißungen des Sommers, und wir waren so selbstgefällig zu glauben, wir würden satt, während die Einwohner von Narbonne und Carcassonne hungern müssten, da es ihnen an Überlebenden mangelte, welche die Saat ausbringen konnten. Ich war damals dreizehn, fast eine Frau, und in den vergangenen Jahren hatte Noni mich in Magie und Zauberei unterwiesen. Mein Unterricht musste in aller Heimlichkeit stattfinden, wenn ich mit ihr allein war, was allerdings selten vorkam. Meine Mutter schien Verdacht zu schöpfen, dass etwas Besonderes uns verband.
Aus diesem Grund nahm Maman mich oft mit zur Messe in die Dorfkirche, und in jenem Sommer wurde ich mit dem aufrechten Christen und Bauern Germain verlobt, einem dreißigjährigen Witwer, dessen Frau ihm nur Töchter hinterlassen hatte - eine davon sogar älter als ich. Ich war unglücklich über diese Abmachung, nicht weil ich Germain nicht mochte, der mir gegenüber sehr freundlich war, sondern weil ich Noni und meinen Unterricht in Magie nicht missen wollte. Auch hatte ich nicht das geringste Verlangen danach, mein schönes Leben aufzugeben und mich um sechs Töchter kümmern zu müssen. Doch da ich bereits eine gründlich ausgebildete und geachtete Hebamme war, machten mich meine Einkünfte zu einer recht guten Partie. In jenem Sommer waren meine Gedanken daher ausschließlich auf das Gespenst der Ehe gerichtet, nicht auf das der Pest — bis Noni an Fieber erkrankte. Wir waren entsetzt. War der schwarze Tod schließlich doch nach Toulouse gekommen?
Zwei Tage lang pflegten meine Mutter und ich sie mit Weidenrindentee und kalten Kompressen. Ich war außer mir vor Kummer und davon überzeugt, sie werde sterben. An dem Morgen, nachdem Noni erkrankt war, entdeckte ich ein unheilvolles Omen: Eine Katze aus dem Dorf lag tot und steif neben unserem Herd, die Beute der letzten Jagd, eine Ratte, noch zwischen ihren Pfoten. Doch das Grauen war nicht von langer Dauer; bald erwachte Noni aus dem Delirium. Am dritten Tag konnte sie schon wieder aufrecht sitzen und ein paar Bissen zu sich nehmen.
Weitere Kostenlose Bücher