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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Köpfen hingen bunt bemalte Schilder, ein Kerzenleuchter beim Silberschmied, drei vergoldete Pillen beim Apotheker, ein weißer Arm mit roten Streifen beim Bader, ein sich aufbäumendes Einhorn beim Goldschmied.
    Kaum hielten wir vor dem Laden des Goldschmieds an, da sprang die Küchenmagd auch schon vom Karren. Sie band das Pferd an einen Pfosten, ließ die schniefenden Kinder sitzen, half uns vom Wagen und führte uns ins Haus. Mir fiel auf, dass der Laden geschlossen, die Fensterläden fest verriegelt waren. Das kam mir seltsam vor, doch ich war von dem Gefühl der Dringlichkeit zu sehr abgelenkt, um beunruhigt zu sein.
    Die Magd führte uns durch einen Flur und über eine schmale Treppe hinauf in den Speiseraum, in dem ein dunkler Herd und geöltes gelbes Pergament vor den Fenstern eine düstere Stimmung verbreiteten. Trotzdem erschien mir der Raum blitzsauber, durch den Rauchabzug am Herd waren die Wände nicht verrußt, und die herrlichen Wandteppiche leuchteten farbenprächtig. Einer davon zeigte das Wappen des Goldschmieds, das Einhorn, in dessen weißer Mähne hier und da Fäden aus reinem Gold schimmerten. Offensichtlich wohnte die Familie allein in dem Haus, es war so ruhig, dass es den Anschein hatte, als lebte dort überhaupt niemand. Am anderen Ende des Speiseraums, der völlig von einem großen, zerlegbaren Tisch mit zwei verzierten Silberkandelabern darauf beherrscht wurde, führte eine weitere Treppe in den zweiten Stock.
    Hier blieb die junge Küchenmagd stehen und deutete hinauf. »Die Herrin ist oben in ihrem Zimmer.«
    Ich drehte mich zu ihr um. »Wir brauchen Leinentücher und Wasser. Wo finden wir das?«
    »Ich hol es«, sagte die Magd mit plötzlichem Eifer und verschwand durch die Tür, die in eine große Küche führte. Noch Jahre danach hatte ich das Klappern unserer Holzschuhe in den Ohren, als ich mit meiner Mutter die steile Treppe hinaufstieg.
    Ich weiß, dass Maman verwirrt fragte: »Aber wo sind denn die anderen Diener alle?«
    Unbehagen überkam mich bei der Erkenntnis, dass es inzwischen später Vormittag war und die Diener eigentlich mit der Zubereitung des Essens beschäftigt sein sollten. Doch im Herd brannte kein Feuer, und aus der Küche drangen weder Geräusche noch Gerüche. Wenn diese fünf jammernden Kinder die des Goldschmieds und seiner Frau waren, hatten sie sicher jetzt Hunger. Warum saßen sie noch draußen?
    Trotz meiner bösen Ahnungen ging ich weiter mit meiner Mutter an meiner Seite, angetrieben von einem inneren Entschluss.
    Die Tür zum Schlafzimmer der Herrschaften am Ende der Treppe stand offen, doch die Fensterläden waren fest verschlossen, sodass der Raum im Dunkeln lag. Meine Augen brauchten eine Weile, um sich an das gedämpfte Licht zu gewöhnen. An der Außenwand standen zwei riesige Schränke und eine Kommode, über der ein großer Spiegel hing. Ich erblickte darin mein eigenes, ernstes Spiegelbild neben Mamans ängstlichem Gesicht, das so bleich war wie die weiße Haube und der Schleier auf ihren eingerollten Zöpfen. Die Schubladen der Kommode waren herausgezogen und offenbar ausgeraubt worden. Sie waren leer bis auf eine zerrissene Perlenkette, die über den Schubladenrand hing. Auf dem Boden daneben lagen lose Perlen verstreut. In einer Ecke des Raums stand ein hölzerner Gebärstuhl, über dessen Anblick ich mich normalerweise gefreut hätte, doch ich war verwirrt, ihn leer vorzufinden.
    Ein Himmelbett mit reichem Schnitzwerk und Brokatvorhängen war mit dem Kopfende vor die andere Wand geschoben worden, woher eindeutige Klagelaute zu vernehmen waren - nicht die vertrauten, ungehemmten Schreie einer Gebärenden, sondern das schwache, kaum hörbare Stöhnen einer Sterbenden.
    Wir sind zu spät, dachte ich. Sie ist bereits niedergekommen und verblutet. Ich trat einen Schritt auf die Frau zu, fühlte mich jedoch plötzlich genötigt, stehen zu bleiben. Vielleicht lag es an der Luft, denn ein schwacher, aber deutlich fauliger Geruch breitete sich aus, den ich noch nie vor dieser schrecklichen Zeit gerochen hatte - und seither auch nie wieder.
    Was immer es auch war, Maman roch es auch, sie hielt mich im selben Moment mit der Hand zurück. Noch immer kann ich mich mit schrecklicher Deutlichkeit an den Moment erinnern: Eine ganze Weile standen wir auf der Schwelle im Banne des Todes - verdammt, ob wir nun einen Schritt vorwärts oder zurück machten. Dann schob ich die Angst beiseite, ließ Maman auf der Türschwelle zurück und durchquerte den Raum, um

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