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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Licht, wenn du die Hände auf einen Kranken legst.«
    Sie lächelte. »Die heilenden Hände sind meine besondere Gabe.«
    » Letzte Nacht habe ich gesehen, wie Menschen verbrannt wurden - nicht die auf dem Marktplatz, sondern in meinem ... Traum.«
    Nonis Lächeln verschwand. »Wo wurden sie verbrannt, mein Kind?«
    »Ich weiß es nicht. Böse Menschen haben sie einfach umgebracht ...«
    Ohne zu wissen, dass ich die Worte aussprechen würde, fügte ich plötzlich hinzu: »Sie sind sehr schlecht, Noni. Sie werden noch mehr Feuer legen, bis es nirgendwo mehr sicher ist.« Ein Augenblick des Schweigens folgte. Sie sah zur Seite und seufzte traurig. Schließlich erwiderte sie: »Sibilla, die Menschen fürchten sich stets vor dem, was sie nicht verstehen. Sehr wenige sind mit dem Zweiten Gesicht oder heilenden Händen gesegnet, deshalb haben die anderen Menschen auch Angst vor uns, weil wir anders sind.«
    »Wie die Juden«, bemerkte ich laut. Ich hatte schon des Öfteren Juden gesehen, die Kaufleute und Geldverleiher mit ihren typischen Hüten und den gelben Filzflecken auf der Brust. Einige Kinder hatten mir erzählt, die Juden würden christliche Kinder stehlen, sie an Kreuze nageln und ihr Blut trinken; und wenn sie kein christliches Blut tränken, würden sie zu ihrer ursprünglichen Erscheinungsform zurückkehren und sich in Teufel mit Hufen und Hörnern verwandeln. Doch die Geschichten ergaben für mich keinen Sinn. Die Juden hatten kleine Kinder wie wir auch und schienen sich nicht weniger um ihre Nachkommen zu kümmern, und ich hatte noch nie einen mit Hufen oder Hörnern gesehen. Als ich die Geschichte Maman einmal erzählte, war sie mir ins Wort gefallen, und Noni hatte sich lauthals über diese Lächerlichkeit amüsiert.
    »Ja«, antwortete Noni. »Wie die Juden. Oder die Leprakranken. Du bist noch zu jung, um dich daran zu erinnern, doch als vor vielen Jahren eine schlimme Krankheit über das Languedoc hereinbrach, hat man die Leprakranken beschuldigt, die Brunnen vergiftet zu haben. Viele von ihnen wurden verbrannt, doch damit war das Volk noch nicht zufrieden. Dann hieß es, die Leprakranken hätten sich mit den Juden verschworen, woraufhin viele Juden angegriffen und umgebracht wurden.« Ich richtete mich auf und legte die Arme um die Knie. »Vielleicht waren die Menschen, die mir erschienen sind, Juden. Oder sie verfügten über die Sehergabe.«
    »Kann sein«, stimmte Noni mir traurig zu. »Ich will dir keine Angst einjagen, mein Kind, doch es ist gefährlich, die Gaben von la bona Dea anderen gegenüber zu erwähnen, die sie womöglich nicht kennen. Deine Mutter versteht nichts davon, die arme Seele, und deshalb fürchtet sie sich. Wenn du ihr gegenüber jemals solche Dinge erwähnst - von Fremden, vor allem Priestern, ganz zu schweigen -, werden wir beide in große Gefahr geraten.«
    Mit tränenerstickter Stimme entgegnete ich: »Dann will ich diese Gabe nicht haben, Noni. Ich will dich nicht in Gefahr bringen.« Ich umarmte sie und barg mein Gesicht an ihrer Schulter.
    Sie hielt mich fest und streichelte mir übers Haar. »Ach, Sibilla mia, es tut mir Leid, dir so harte Dinge sagen zu müssen. Doch du hast keine andere Wahl: La bona Dea hat dich auserkoren, dir eine besondere Gabe verliehen, die vielen Menschen helfen kann. Du musst sie einsetzen. Wenn du der Göttin vertraust, kann dir nichts geschehen. Doch solltest du deine Gabe verleugnen, wirst du nie glücklich werden.«
    Damals schilderte ich ihr - so gut ich es mit meinen kindlichen Worten vermochte - meine Vision von der Göttin, und sie hörte mir mit wachsendem Stolz zu. Allerdings erwähnte ich die Gefahr für mich mit keinem Wort, ebenso wie sie mir damals verschwieg, was die Göttin ihr offenbart hatte.
    Dann beugte sie sich zu mir und flüsterte: »Ich werde dir ein Geheimnis verraten. Bevor du zur Welt kamst, erschien mir la bona Dea in einem Traum und erklärte mir, sie habe dich für eine ganz besondere Aufgabe in dieser Welt ausersehen.
    Wir sind vom selben Geschlecht, du und ich, wir gehören zu jenen, die la bona Dea dienen. Einige von uns besitzen besondere Gaben, anderen obliegt es, die mit den Gaben Gesegneten zu schützen.
    Du - du verfügst über eine der ganz besonderen Gaben, du hast das herausragendste Schicksal von allen.« Dann fügte sie nüchtern hinzu: »Du darfst niemandem von deiner Vision erzählen, sonst wird man dich für verrückt erklären oder, noch schlimmer, für eine Ketzerin halten und dich umbringen, wie

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