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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Sie würde auch meine Tochter sein, wenn ich einmal tot war, ebenso die Tochter meiner Tochter, Sie würde im Laufe der Generationen immer wieder frisch erblühen ... Wieder wurde ich ohnmächtig, und als diesmal die Dunkelheit wich, sah ich nur das Strohdach unserer kleinen Kate und das offene Fenster ... Und davor die Vormittagssonne an einem strahlend blauen Himmel. Das Licht brannte mir in den Augen, und ich hob eine Hand, um sie abzuschirmen.
    »Bist du wach, Sibilla mia! Setz dich auf, mein Kind«, sagte Noni, meine Großmutter. Sie stand mit einer Tasse vor mir. Damals hatte ihr Haar noch die Farbe eines glänzenden Raben. Sie war so klein wie ich, doch drahtig und stark, und sie trug wie immer ihren schwarzen Witwenschleier und die dazu passenden Röcke. Für mich war sie die weiseste Frau der Welt, denn sie wusste, wie man Knochen richtete und Geschwüre aufstach, wie man aus dem Urin einer Frau herauslesen konnte, ob sie schwanger war, wie man Salben für Prellungen und Tees gegen Fieber und Husten zubereitete. Manchmal stellte sie auch für die Familie Zaubermittel her, doch sie wies mich an, niemals über solche Dinge zu reden. Wenn man sie erwähnte, ließe ihre Kraft nach, behauptete Noni zumindest. Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht und nahm Rauchgeruch wahr.
    »Menschen«, stellte ich fest und begann zu weinen. »Menschen sind gestorben. Man hat sie verbrannt.«
    „Seht, meine Kleine«, beruhigte sie mich und strich mir einen Strohhalm aus dem Haar. »Ihr Leid hat jetzt ein Ende. Setz dich, Sibilla.«
    Da begriff ich erst, dass ich wieder zu Hause in unserer Kate saß, dass mein Vater wohl zur Arbeit auf den Feldern gegangen war und meine Mutter am Fluss Wasser holte oder die Kleider wusch. Mir fielen auch die Ereignisse vom Vortag auf dem Marktplatz in der Stadt ein, und ich merkte, dass meine Großmutter meinte, ich beziehe mich auf die armen Opfer dort.
    Ehe ich ein Wort sagen konnte, hielt Noni mir die Tasse an die Lippen. Es war einer ihrer bitteren Tees, doch ich machte den Mund widerstandslos auf - ich hatte diesen Kampf schon so oft verloren -und trank ihn bis auf den letzten Tropfen. Bei dem strengen Geschmack nach Weidenrinde, einer Zutat, die meine Großmutter zur Behandlung jeder Krankheit bevorzugte, verzog ich das Gesicht. Trotzdem leerte ich die Tasse. Noni stellte sie wieder auf das Regal, setzte sich dann neben mich auf das Stroh und legte mir die Hand auf die Stirn. Bei ihrer Berührung schloss ich vor Wonne die Augen.
    Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, sind mir die Hände meiner Großmutter am stärksten in Erinnerung geblieben. Sie waren nicht so weich wie die meiner Mutter, sondern runzelig, knöchern und schwielig. Doch sie waren immer warm, und wenn ich ruhig und aufmerksam genug stillsaß, spürte ich diese besondere prickelnde Wärme, die nur von Nonis Berührung ausging. Schon oft hatte ich, vor allem nachts, ihre Hände betrachtet - wenn Noni sie auf meine Mutter legte, die mit la grippe daniederlag, oder auf mich, wenn ich wieder einmal Fieber hatte - und gesehen, wie sie mit einem goldenen Licht von innen her strahlten, als flirrte die Luft um ihre Hände mit glitzerndem Schein, mit schimmerndem Goldstaub. Der Anblick überraschte mich nicht. Ich dachte, jeder sähe solche Dinge und alle Großmütter hätten heilende Hände mit einem Goldschimmer. An jenem Morgen spürte ich schließlich, wie meine Noni die Hände zurückzog und seufzte. Ich schlug die Augen auf und sah, dass sie noch immer neben mir saß und mich sehr ernst anblickte.
    »Du bist gestern ohnmächtig geworden«, erklärte sie, »bei der Verbrennung auf dem Marktplatz. Du bist vom Wagen gefallen und hast dich am Kopf verletzt. Mal hast du geschlafen, dann wieder über viele verschiedene Dinge fantasiert. Weißt du noch, was du geträumt hast?«
    »Ich habe nicht geträumt, Noni. Ich habe es gesehen. Es war wirklich da.«
    Sie nickte, schaute sich um, als wollte sie sichergehen, dass wir allein waren, und antwortete leise: »Es ist eine besondere Art des Sehens. Manche nennen es das Zweite Gesicht. Es ist eine Gabe von la bona Dea, über die nur sehr wenige verfügen. Meine Mutter besitzt sie, ebenso wie ihre Mutter. Auch du bist damit gesegnet. Hast du auf diese Weise schon andere Dinge gesehen?«
    »Ja«, murmelte ich. Als sie die Heilige Mutter erwähnte, fiel mir die fröhliche, lachende Macht ein, die in meiner Vision die Madonnenstatue bewohnt hatte.
    »Manchmal sehe ich ein goldenes

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