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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Wagen je wieder sehen würden.
    Als Maman mit dem Wasser und den Leinentüchern zurückkam, wand sich die Frau auf dem Bett heftig hin und her. Zunächst dachte ich erleichtert, das Kind sei soweit, doch kurz darauf wirkten ihre ruckartigen Bewegungen unnatürlich und beunruhigend. Sie erstarrte, dann zuckte sie heftig, als versuchte sie sich vom Bett zu werfen, wie ein gestrandeter Fisch, der sich vom Trockenen ins Wasser stürzen will. Maman hielt ihr die Arme fest, um die Gebärende vor einem Sturz oder einer Verletzung zu bewahren. Doch die Frau röchelte nur und biss die Zähne so fest zusammen, dass ich befürchtete, sie könnte sich die Zunge durchbeißen.
    Abrupt wurde sie ganz still, und ihr Körper sank kraftlos auf die Matratze, ihre trüben Augen starrten auf eine schreckliche Vision jenseits der Zimmerdecke. Inzwischen hatte ich das kleine Messer mit dem weißen Griff aus meinem Bündel geholt, das ich immer verwendete, um die Nabelschnur zu durchtrennen. Doch diesmal wusste ich, dass ich noch so fest ziehen könnte, ohne das Kind aus dem Mutterleib zu bekommen. Als ich das Messer ansetzte, wurde Maman ganz grau im Gesicht, Schweiß trat auf ihre Oberlippe, doch sie blieb standhaft. Blut schoss aus dem Einschnitt in den geschwollenen Leib der Frau. Schon oft war bei einer Geburt viel Blut geflossen, und ich kannte den Übelkeit erregenden Kotgeruch, der für gewöhnlich dem Darm entströmte.
    Doch noch nie hatte etwas so abstoßend gestunken wie die Wunden der verstorbenen Frau des Goldschmieds. Ich überwand den aufsteigenden Ekel und fuhr mit meiner Arbeit fort. Zuerst sahen wir das kleine Gesäß des Kindes, auf dem dunkles Blut glitzerte, dann den winzigen Rücken. Beim Anblick des weichen Leibs verzog ich das Gesicht, doch es gelang mir, die Hände unter den kleinen Bauch des Kindes zu schieben, wobei Maman mir half. Ich musste all meine Kräfte aufwenden, um das Kind freizubekommen. Endlich löste sich das winzige Wesen und glitt mir beinahe aus den Händen. Ich lächelte heiter trotz der grässlichen Umgebung - die Ankunft eines Neugeborenen kann selbst den tiefsten Kummer vertreiben -, und reichte den Jungen an Maman weiter, die ihn mit einem Tuch entgegennahm und behutsam abwischte. Unsere Freude hielt nicht lange vor, denn der Junge rührte sich nicht, er wollte nicht einen einzigen Atemzug tun, trotz unserer wiederholten leichten Schläge. Stattdessen lag er schlaff wie ein ersticktes Kätzchen in meinen Händen. Meine Mutter wickelte das arme Geschöpf in saubere Küchentücher und legte es zwischen die Brüste seiner toten Mutter.
    Dann bedeckte ich die Frau mit Decken und nahm mein Bündel an mich. Gemeinsam stiegen wir die Treppe hinunter.
    Nicht eine lebende Seele war noch in dem Haus. Die Küchenmagd war tatsächlich geflohen und hatte auch den Wagen mitgenommen. Ich war unglaublich wütend auf sie, dass sie ihre Herrin und das Ungeborene im Stich gelassen und uns in ein von der Pest heimgesuchtes Haus geführt hatte. Dennoch war mir bewusst, dass sie wahrscheinlich eine gutherzige Frau war, die aus Angst so gehandelt hatte. Wenigstens hatte sie veranlasst, dass die Kinder ihrer Herrschaft versorgt waren und dass eine Hebamme sich um das Neugeborene kümmerte. Vielleicht hatte sie gehofft, die Kräuter der Weisen Frau könnten ihre sterbende Herrin retten.
    Maman und ich gingen zum Apotheker nebenan. Meine Mutter berichtete der Frau an der Tür, dass die Pest bei den Nachbarn Einzug gehalten habe, und bat sie, einen Priester zu rufen, denn unseres Wissens waren die Frau und das Kind ohne Absolution gestorben, ohne die Letzte Ölung, mit der sie in den Himmel kamen. Zu unserem Kummer schlug man uns die Tür vor der Nase zu. Wir hätten den Heimweg zu Fuß zurücklegen müssen, wenn die Göttin nicht eingegriffen hätte. Meine Mutter traf einen der Diener aus dem Haushalt des Seigneurs, der uns erkannte und auf der Ladefläche seines Wagens mitnahm, wo wir zwischen den soeben eingekauften Vorräten für das Herrenhaus Platz nahmen.
    Die wenigen Meilen vom Landgut zu unserem Dorf gingen wir zu Fuß. Als wir nach Hause kamen, war die Sonne gerade untergegangen, und Papa beendete die bescheidene Abendmahlzeit, die Noni ihm zubereitet hatte. Meine Großmutter schien sich fast vollständig erholt zu haben. Als Maman den beiden die schreckliche Geschichte erzählte, hörte mein Vater erst mit finsterer Miene zu und sagte dann, einer der Leibeigenen, die auf dem Landgut des Seigneurs in Lohn und

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