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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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die Fensterläden zu öffnen. Ein Lichtstrahl durchdrang das Dunkel und erleuchtete die Frau im Bett.
    Damals war ich dreizehn und hatte bereits viel Leid gesehen. Die Schreie der Gebärenden während der Wehen und der Anblick von Blut machten mir nichts aus. Ich hatte Frauen ihre Männer verfluchen hören, mit Worten, die selbst dem Teufel die Röte ins Gesicht getrieben hätten, hatte gesehen, wie sowohl Mutter als auch Kind dahinsiechten. Das alles konnte ich tapfer ertragen, doch der Anblick dieser Frau ging mir ans Herz. Sie lag reglos da -zu reglos -, und nur, wenn die Wehen kamen, zuckte ihr angeschwollener Leib in die Höhe. Sobald die Krämpfe vorüber waren, sank sie schwach wie eine Puppe zurück. Mehrere Decken waren am Fußende des Bettes zusammengeknüllt und legten einen nassen Fleck in der Mitte frei. Offensichtlich war das Fruchtwasser der Frau ins Bett gelaufen, was man sonst bei Geburten um jeden Preis zu vermeiden suchte. Wieder wunderte ich mich, dass niemand aus der Dienerschaft das Einsickern des Fruchtwassers in die mit Leinen überzogene Matratze verhindert hatte. Die Situation wurde immer seltsamer, je näher wir hinsahen: Die Frau lag nackt da, was bedeutete, dass ihre Bediensteten sie an jenem Morgen gar nicht angekleidet hatten, und ihre bloßen, gespreizten Beine waren von den Oberschenkeln bis zu den Füßen mit schwarzen, fleckigen Blutergüssen übersät. Selbst ihre Zehennägel waren schwarz angelaufen. Zuerst überkam mich eine blinde Wut. Zweifellos hatte ihr Mann sie verprügelt, obwohl sie so kurz vor der Niederkunft stand.
    Dann trat ich ans Bett und sah ihr Gesicht. Vor Schreck wäre ich beinahe auf die Knie gesunken. Sie hatte die Augen weit aufgerissen, doch ihr Blick war leer und mit dem matten Schimmer überzogen, der den nahen Tod ankündigt. Vielleicht war sie einmal eine schöne Frau gewesen, doch jetzt war ihr Gesicht Furcht erregend, völlig entstellt von denselben schwarzvioletten Flecken. Ihr Mund stand offen, und die geschwollene Zunge quoll zwischen blutigen Zähnen hervor. Als meine Mutter schließlich neben mich trat, legte sie sich bei dem beißenden Geruch die Hand über Nase und Mund. Im ersten Augenblick dachte ich, sie werde ohnmächtig, und wollte sie schon auffangen, doch sie fasste sich wieder und ließ die Hand gerade so lange sinken, dass sie die Frau mit fester Stimme ansprechen konnte. »Madame ...«
    »Maman«, unterbrach ich sie leise. »Maman, sie ist dem Tode zu nahe, um dich hören zu können.« Wieder stöhnte die Frau laut auf, als starke Wehen die Luft aus der Lunge der Frau pressten und sie sich erneut aufbäumte. Der blutige Scheitel des Kindes war schon zu sehen.
    In der Regel pflegte ich eine Hand auf den Bauch der werdenden Mutter zu legen und mit Hilfe meiner Sehergabe die Lage und Gesundheit des Kindes zu bestimmen. Doch beim Anblick der Eiterbeulen auf dem Leib der Frau war ich vor Angst wie gelähmt und spürte überhaupt nichts. Mein Entsetzen wurde noch verstärkt, als meine Mutter hinter mir überrascht aufschrie. Ich folgte ihrem entgeisterten Blick zum Boden, wo ein Körper - von der Größe her ein Mann - in ein Leichentuch gewickelt lag. Er hatte dort erst wenige Stunden gelegen, denn er war noch nicht steif.
    »Marie Sybille«, sagte meine Mutter in einem Befehlston, den ich von ihr gar nicht kannte. »Die Pest ist nach Toulouse gekommen. Bitte die Küchenmagd, dich sofort nach Hause zu bringen und halte nicht an, um mit jemandem zu reden.«
    »Aber ich kann sie doch unmöglich allein lassen.« Ich deutete mit dem Kinn auf Mutter und Kind.
    »Ich bleibe hier«, entgegnete Maman sofort und trat mit trotzigem Mut neben mich.
    An jenen Augenblick versuchte ich mich seither zu erinnern, wann immer die Wut auf meine Mutter mich zu vergiften drohte: Trotz ihrer Furcht liebte sie mich so sehr, dass sie bereit war, an meiner statt zu sterben. »Wenn du bleiben willst, dann suche die Küchenmagd«, befahl ich, »und bringe in Erfahrung, wo sie mit den Tüchern und dem Wasser bleibt.«
    Normalerweise hätte Maman mich geohrfeigt, wenn ich eigene Anweisungen erteilte hätte, ohne auf ihre zu hören, doch in diesem Fall war ich die erfahrene Hebamme und nicht sie. Sie presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und eilte aus dem Zimmer. Ihre Schritte waren die einzigen, die ich vernahm, auch vom darunter liegenden Stockwerk ertönte kein Laut, und mit einem Mal wusste ich, dass wir weder die Küchenmagd noch die Kinder noch den

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