Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Pfad der Sicherheit führt. Zum möglichen Tod von uns allen, mein Kind. Zur Auslöschung des Geschlechts, was mit der Zeit zur Vernichtung der gesamten Menschheit führen wird. Wie sollen wir leben, wenn wir wissen, dass die wenigen glücklichen Jahre zu diesem Preis erkauft wurden?« Sie legte eine Hand, warm und fest, an meine feuchte Wange. »Ich bin froh über meine Wahl«, fuhr sie dann fort, »ich habe sie bereits in der Nacht deiner Geburt getroffen, als die Göttin mir meine Bestimmung zeigte - und deine. Dein Schicksal ist härter, Sibilla, denn du musst jetzt übermenschliche Fähigkeiten entwickeln.« Sie hielt inne und zog ihre Hand zurück. »Und dann musst du ihn finden, denn nur du kannst ihn vor dem Bösen retten, das uns bedroht, nur du kannst ihm die echte Weihe zeigen, wie es für euch beide bestimmt ist. Einmal vereint, sind der Gott und die Göttin die größte Macht überhaupt, und das Böse kann sie nicht mehr besiegen.
Du musst nun schnell auf deinem Pfad weitergehen, und hüte dich davor, nach Hause zurückzukehren. Deine arme Mutter ist jetzt fest in den Händen des Feindes und stellt eine große Gefahr für dich dar. Deine Magie vermag sie nicht zu retten. Mein Segen sei mit dir, mein Kind, und alle Gaben der Göttin; in dir werden sie tausendfach verstärkt.«
»Ich kann dich doch nicht dem Leid überlassen!«, beharrte ich, aber es spielte keine Rolle. Sie hatte mich bereits verlassen. Als ich aufwachte, saß ich im Dunkeln, und mein Schoß war voller herabgefallener Herbstblätter.
Drei Tage lang ging ich durch den Wald und richtete mich nur nach der Sonne und meinem Herzen. Es heißt, der Stammesvater Jakob habe mit Gott in Form eines Engels gerungen. In jenen Tagen rang auch ich in gewisser Weise mit der Göttin, ich betete inbrünstig bei jedem Schritt wie eine Bittstellerin, die sich ans Bein ihres Wohltäters klammert und nicht eher loslässt, bis ihrem Ersuchen stattgegeben wird. Von Noni spürte ich nichts. Vermutlich setzte sie ihre magischen Kräfte ein, um mir weiteren Kummer zu ersparen.
Immer weiter lief ich, bis zum Nachmittag des dritten Tages. Erschöpft war ich unter einem Eichendickicht eingeschlafen und wurde plötzlich mit klopfendem Herzen wach, als ich eine Vision hatte.
Ich stand auf dem großen Platz im Schatten der Basilika Saint-Sernin. Dort hatte man einen Wall aufgeschüttet, auf dem wiederum mehrere Scheiterhaufen errichtet worden waren. Zu diesen Scheiterhaufen wurden die Gefangenen in Ketten geleitet.
Ich war erschrocken, und doch so ergriffen, dass kein Laut über meine Lippen kam, keine Träne aus meinen Augen trat.
Ich bin mir sicher, dass mehrere Gefangene hinausgeführt wurden, und ihren Seelen leiste ich Abbitte für meinen Mangel an Mitgefühl und Aufmerksamkeit, denn an jenem schrecklichen Tag sah ich nur eine, die an ihren schweren Eisenketten zu ihrem letzten Ziel gezerrt wurde: Noni. Meine kostbare Noni, ihres Lebens und ihrer Schönheit beraubt. Verschwunden war die stämmige Frau, die ich einmal gekannt hatte, an ihre Stelle war eine schwache Alte getreten. Ihre langen, wie Ebenholz glänzenden Haare, durchsetzt mit ein paar grauen Strähnen, hatte man geschoren, bis auf einen stoppeligen Rest, der inzwischen fast ganz weiß geworden war. Ihre Wangen waren tief eingefallen, sie hatten ihr die meisten Zähne ausgebrochen, und ihre Augen waren fast völlig zugeschwollen, sodass sie nahezu blind war. Wie ich sie erkannte, weiß ich nicht. Selbst ihr Körper war schrecklich entstellt, die Beine gekrümmt, die Arme hingen schlaff herab. Alle Gefangenen waren an Füßen und Händen aneinander gekettet, und die Wächter drängten sie barsch vorwärts. Noni, die Schwächste von allen, stolperte und fiel. Einer der Wächter zerrte sie auf die Beine und schlug ihr mit dem Knüppel über den Rücken, woraufhin sie beinahe wieder zu Boden fiel.
Als sie schließlich von einem anderen Gefangenen losgekettet wurde und man ihr befahl, sich an den Pfahl zu knien, sackte sie mit einem tiefen Seufzer des Einverständnisses in sich zusammen, als wäre das Schlimmste für sie überstanden und der Rest nur noch ein belangloser Akt. Zwei Scharfrichter waren bereits mit den anderen Gefangenen beschäftigt, jetzt trat einer auf Noni zu. Mit einem Schlüssel löste er eine ihrer Fußfesseln und stellte Noni so, dass der Pfahl zwischen ihren Schienbeinen war, ehe er die Kette wieder verschloss. Dasselbe machte er mit den Fesseln an ihren Handgelenken, löste sie,
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