Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
einen leichten Schlaf fiel, hatte ich einen Traum..
In der Stadt kniete ich in einer großen Kathedrale, die ich von meiner Kindheit her kannte; es war die massive Basilika Saint-Sernin, deren große Türen nach Westen die Strahlen der Nachmittagssonne hereinließen. Neben mir im Hauptschiff befanden sich mehr Menschen, als ich je gesehen hatte, Nonnen und Mönche natürlich, doch auch Leute aus jeglichem Stand, Bauern, Kaufleute und niedriger Adel. Sie alle beteten und weinten.
Auf dem Altar standen Kerzen für die Toten, Hunderte, in den Seitenschiffen lagen Büßer, das Gesicht dem Boden zugewandt, die Arme ausgebreitet, die Beine geschlossen, in der Form eines römischen Kreuzes, während sie das Vaterunser und Mariengebete murmelten. Sie drängten sich unter einem gewölbten Flachrelief von Jesus Christus in seiner Erhabenheit. Einige geißelten sich mit Lederriemen, aus denen Nägel herausschauten, und knieten mit blutüberströmtem Rücken betend nieder.
Trotz meiner Verzweiflung empfand ich einen Hauch von Ehrfurcht beim Anblick dieses Heiligtums, groß genug für fünftausend Seelen, hoch genug, um die Sonne zu berühren. Und irgendwo unter all dieser Pracht und Heiterkeit litt meine Großmutter. Oben der Himmel, unten die Hölle.
Ich ging an eine Stelle weitab vom Altar, kniete dort auf dem kalten Stein nieder und betete noch einmal mit denselben Worten: Heilige Mutter Gottes, sende mir Deinen Frieden. Leite mich und gib mir Kraft, meiner Großmutter zu helfen ...
Ich wiederholte das Gebet so lange, bis mich schließlich eine gewisse Ruhe überkam, und mit einem plötzlichen Gefühl der Liebe und Erleichterung ließ ich mich, Schritt für Schritt, meinem Ziel entgegenführen.
Die Basilika hatte fünf höhlenartige Nebenschiffe. Ich merkte, wie meine Füße das dritte ansteuerten. Dort erblickte ich ein kleines Querschiff, das auf eine Treppe zuführte. Diese wand sich hinab zu einem dunklen Korridor, der wiederum vor einer verschlossenen Holztür endete. Sie war gut dreimal so hoch wie ich und zweimal so breit. Mit dem Vertrauen eines jeden Träumenden ging ich zuversichtlich durch das Holz, als wäre es ein Trugbild.
Gleich dahinter stand ein großer, muskulöser Junge, ungefähr zwei Jahre älter als ich mit flaumigem, zimtfarbenem Oberlippenbart und hellem Haar. In der Rechten hielt er ein Schwert, das er drohend über dem Kopf schwenkte.
Ohne ein Wort zu verlieren, ging ich an ihm vorbei über die Schwelle in einen dunklen Steinkorridor.
An dessen Ende saß meine Noni hinter eisernen Gitterstäben. Sie lächelte so lieb und war offensichtlich so froh, mich zu sehen, dass ich Freudentränen weinte, obwohl ich spürte, dass man sie bereits gefoltert hatte und sie unendliche Qualen litt. Aber wie es manchmal in Träumen so ist, sehen wir nicht immer alles deutlich.
»Sibilla«, begrüßte sie mich und streckte mir durch die Eisenstäbe die Hand entgegen. Ich umfasste sie und setzte mich, und es war, als lösten sich die Stäbe zwischen uns auf, sodass nichts mehr zwischen uns war, überhaupt nichts, keine Entfernung, keine Mauern, nicht einmal das Alter oder die Körper, in denen wir in diesem Leben eingeschlossen waren.
Meine Tränen wurden bitter vor Salz und Sorge. »Warum, Noni, warum nur? Warum hast du meine Sehergabe vor mir verborgen?«
Noch immer lächelnd erwiderte sie: »Kind, warum stellst du mir Fragen, deren Antwort du bereits kennst?« Es stimmte, hätte ich um die Gefahr gewusst, ich hätte gewiss darauf bestanden, Noni in die Obstgärten des Seigneurs zu begleiten, um sie zu beschützen. Ich hätte niemals zugelassen, dass sie allein auf diesen Karren stieg und in den Kerker kam. Trotzig beharrte ich: »Musst du hier bleiben? Ich kann zu dir kommen und Justin und Mattheline mitbringen, wir werden schon eine Möglichkeit finden, dich zu befreien, wir werden bestimmt eine Möglichkeit finden ...«
»Schau in dein Herz«, forderte sie mich auf, und einen Moment lang schien sie unendlich jung. Ich sah sie als junge Frau vor mir, mit glänzendem, dunklem Haar, vollen karmesinroten Lippen - eine wunderschöne Erscheinung. Und ich weinte bittere Tränen.
»Aha«, bemerkte Noni, »siehst du, du kannst die Göttin auch nicht verleugnen. Sie hat dir gesagt, was geschehen muss.«
»Aber ich kann es nicht ertragen, dass sie dir etwas antun. Bestimmt«, flüsterte ich, »bestimmt gibt es noch eine andere Möglichkeit.«
»Die gibt es tatsächlich, und du weißt so gut wie ich, wohin der
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