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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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zog meiner Großmutter die Arme auf den Rücken (wobei sie gepeinigt das Gesicht verzog) und fesselte sie erneut.
    Dadurch war eine Flucht unmöglich, selbst für einen starken Menschen. Allerdings war es damit nicht getan, immerhin bestand noch die Möglichkeit, dass sie ohnmächtig wurde oder sich absichtlich dem Feuer überließ, nach vorn in die Flammen sackte und auf diese Weise rasch starb.
    Um dies zu verhindern, band der Scharfrichter ihren aufrechten Oberkörper mit einem Seil an den Pfahl, um sicherzustellen, dass der Tod erst eine gute Weile nach der Qual durch das Feuer eintreten würde. Nachdem er sein Werk vollendet hatte, trat der zweite Scharfrichter hinzu und schichtete zuerst Holz zum Anzünden, dann dickere Holzscheite um meine kniende Großmutter, damit die Flammen möglichst schnell aufloderten. Dabei begann Noni zu singen: Diana e la bona Dea. Diana e la bona Dea...
    Sie lallte, die Worte kamen nur undeutlich hervor, doch ich musste mich nicht anstrengen, um sie zu verstehen. Stolz fuhr sie fort, die Sätze zu wiederholen, ein magischer Singsang vielleicht. Tatsächlich aber schrie sie heraus, was sie nie zuvor in aller Öffentlichkeit hatte kundtun können, nicht einmal in ihren eigenen vier Wänden. Auch die Menschenmenge erkannte schließlich die Worte und begann zu johlen. Einer warf einen Stein, der Noni an der Wange traf. Sie lächelte und entblößte dabei ihre blutigen Kiefer. Matt sang sie weiter: Diana ist die Göttin, die Heilige Mutter Gegrüßet seist du, Diana, la bona Dea Sie, die immer schon Die Mutter Gottes war.
    Ein zweiter Stein flog, dann ein dritter. Beide verfehlten ihr Ziel. Die Wachleute drohten den Störenfrieden mit den Schwertern, und die Menge beruhigte sich wieder, obwohl einige nicht aufhören wollten, über Nonis schändliche Blasphemie zu schimpfen.
    Ana Magdalena jedoch schien sie nicht zu hören. Immer noch singend hob sie das Gesicht zum Himmel. So grauenvoll ihr zerschundenes Gesicht auch wirkte, es strahlte dennoch.
    Dann wandte sie sich einem der Ordensmänner zu, der als Zuschauer auf einem Podium in der Nähe saß. Ich versuchte, seine Gesichtzüge zu erkennen, doch seine Gestalt war verhüllt, und er saß im Schatten verborgen. Ana Magdalena sang für ihn:
    Diana e la bona Dea,
    Diana e la bona Dea
    Domenico, du, der du vor langer Zeit das Fenster in der
    Kathedrale zerstört hast.
    Du, verräterisches Feuer, entfacht bei der Geburt des Kindes,
    Du, die Krähe an jenem kalten Sommermorgen,
    Du glaubst, du habest endlich gewonnen.
    Siehst du es nicht? Die Liebe allein hat gewonnen, um stärker zu sein denn je.
    Das ist unser Sieg, nicht deiner.
    Wende dein Herz zurück zur Heiligen Mutter und finde
    Frieden ...
    Was kann ich über den Tod sagen?
    Jeder hat schon einmal von Heiligen und Helden gehört, die, von Pfeilen durchbohrt, am Kreuze hängend, mit herausgerissenen Augen nicht schreien, sondern ihr Ende mit vor Entzücken strahlendem Gesicht selig begrüßen. Doch ein qualvoller Tod hat weder mit Würde noch mit Gnade zu tun, weder mit Tapferkeit noch mit Schönheit, davon konnte ich mich mit eigenen Augen überzeugen. Wir Sterblichen verenden schreiend wie die Schweine.
    So war es auch mit meiner Noni - zunächst. Denn sobald das dünne Holz richtig brannte, leckten die Flammen an den Füßen der Gefangenen. Die meisten begannen sofort zu schreien, doch erst als das Reisig heiß wurde und die Holzscheite Feuer fingen, gab Noni ihren Singsang auf und stieß wütende Schreie aus.
    Wie einst Jakob griff ich nach der Göttin und hielt Sie fest, betete mit jedem Muskel, jedem Knochen, jedem Stück Fleisch meines Wesens: Nimm den Schmerz von ihr. Nimm den Schmerz von ihr und gib ihn mir. Das hatte nichts mit Magie zu tun, ich benutzte kein Amulett, keinen Zauber, keinen Gesang, nur Willenskraft. Reine Willenskraft, verbunden mit tiefer Liebe. Vielleicht liegt darin die größte Magie überhaupt, denn ich wurde sofort von einer Qual heimgesucht, die schlimmer war als alles, was ich bis dahin erlebt hatte. Schreiend stürzte ich vornüber zu Boden, einerseits froh über den raschen Erfolg des Gebets, und zugleich halb wahnsinnig vor Schmerz.
    Jeder hat schon einmal aus Unwissenheit oder aus Versehen einen rot glühenden Kessel berührt. Die Qual ist so groß, dass man den Arm, die Hand oder den Finger sofort zurückzieht, weil man sie nicht ertragen kann. Der anhaltende Schmerz lehrt Kinder, den Irrtum nicht zu wiederholen. Wie soll ich nur beschreiben, wie

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